Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.16 Wissenschaft

4 Wissen und Wahrheit?


Irgendwann begannen die Menschen zu zweifeln. Irgendwann glaubten sie einfach nicht mehr, dass die Schwalben sich im Winter in Sümpfen eingraben, um dort die kalte Jahreszeit zu überdauern. Seit Aristoteles war diese Vorstellung von Generation zu Generation weitergegeben worden. Der Zweifel wurde zum Keim der Forschung, und im 18. Jahrhundert wollte man es genauer wissen: Der Schulmann und Schriftsteller Johann Frisch band einigen Vögeln rote Fäden ans Bein und verfolgte, ob deren Farbe nach einem Winter im Morast verblasst war. Doch sie leuchteten auch im Frühjahr noch in knalligem Rot. Die Theorie der Überwinterung im Sumpf war widerlegt - und die Methode der Vogelberingung geboren. Um 1840 entstand die Vogelzugforschung.


Wissenschaft hat viele Gesichter. In Zeiten von Markt, Konkurrenz und Demoskopie erweist sich ein Teil von Wissenschaft als käuflich. Als "habilitierte Pharmareferenten" hat z.B. Ingrid Mühlhauser einen Teil der universitären Chefärzte vor kurzem bezeichnet. Die Hamburger Professorin für Gesundheit meinte damit die enge Verbindung vieler Hochschullehrer mit der Pharmaindustrie. Kaum ein Chefarzt in der Medizin, der nicht einen lukrativen Beratervertrag mit einem Pillenhersteller eingegangen ist oder sich ebenso einseitige wie mittelmäßige Vorträge auf Pharmaveranstaltungen fürstlich honorieren läßt. Längst macht das Schlagwort von den "Mietmäulern" in der Branche die Runde
[1]. Denn es gilt hier "Eminenz vor Evidenz".

Gerade im Gesundheitsmarkt ist "wissenschaftlich" ziemlich zur Werbefloskel verkommen. Wie in der Kleidermode die Farbpaletten, so wechseln hier, streng "wissenschaftlich" bewiesen und "wissenschaftlich" notwendig, die Moden von Operationstechniken oder Medikationsschemata. Und wenn ruchbar wird, daß zig Menschen deshalb gestorben sind, dann wird sang- und klanglos eine neue Mode kreiert, angeregt von der Pharma- oder der Medizingeräte-Industrie, die nur ihre positiv-positiven Versuchsreihen veröffentlicht und diese mit Statistiken belegt, für die ein Student anderer Fachrichtungen aus dem Seminar gejagt würde.

Bisher durfte die Pharmaindustrie in Deutschland nicht für verschreibungspflichtige Arzneimittel werben. EU-Industriekommissar Verheugen will das ändern. Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Peter Sawicki, lehnt das Aufweichen des Werbeverbots ab. Schon die Informationen für Ärzte seien wenig fundiert, den Patienten werde es ähnlich ergehen: "90 Prozent der Informationen, die Ärzte von Pharmavertretern bekommen, sind nicht durch Studien gestützt. Im besten Falle sind sie unvollständig, im schlimmsten Falle schlicht falsch und gelogen", sagt er. Das IQWiG hat den staatlichen Auftrag, für Patienten unabhängige Informationen für Therapiemöglichkeiten zu erarbeiten.[2]

Die Marketingstrategien der weltgrößten Pharmakonzerne haben mittlerweile völlig gesunde und beschwerdefreie Menschen ins Visier genommen. Die Stimmungsschwankungen des Alltagslebens mit ihren Hochs und Tiefs gelten heute als mentale Störungen. Völlig normale Beschwerden sind zu Besorgnis erregenden Krankheitssymptomen erklärt worden, und immer mehr gesunde Menschen werden
per "wissenschaftlicher" Untersuchungen zu Patienten umdefiniert.

Da wird Schüchternheit auf einmal zum Symptom für allgemeine Angststörungen und prämenstruelle Spannungen werden zu einer Geisteskrankheit, der man den Titel "prämenstruelle dysphorische Störung" verleiht. Ganz alltägliche sexuelle Schwierigkeiten sieht man als sexuelle Störungen oder die natürlichen, altersbedingten hormonellen Veränderungen als durch Hormonmangel ausgelöstes Krankheitsbild namens Menopause. Und ein unkonzentrierter Büroangestellter leidet heutzutage gleich unter der Krankheit, die man AADD (Adult Attention Deficit Disorder) nennt. Schon die Tatsache, daß jemand zu einer "Risikogruppe" gehört, ist zu einer eigenständigen Krankheit geworden. Deswegen leiden Frauen mittleren Alters heute unter einer schleichenden Knochenerkrankung mit Namen Osteoporose, und durchaus fitte Männer in den besten Jahren bekommen ein lebenslanges Krankheitsbild namens "erhöhter Cholesterinspiegel" bescheinigt.

Erst kürzlich hieß es in einem Bericht des Informationsdienstes Reuters Business Insight, daß sich die Möglichkeit, "neue Krankheitsmärkte zu schaffen", in Milliardenumsätzen auf dem Medikamentenmarkt niederschlagen werde. Eine der wichtigsten Strategien, heißt es dort, habe zum Ziel, die Wahrnehmung zu beeinflussen, die normale Leute von ihren kleinen Wehwehchen haben, sodaß "natürliche Vorgänge" zu medizinischen Indikationen werden. Man muß die Menschen davon "überzeugen", dass "alle möglichen Probleme, die sie bis dahin vielleicht nur als lästige Sache hingenommen haben" - Haarausfall, Falten oder sexuelle Schwierigkeiten - nunmehr als Probleme gelten, die eine "medizinische Behandlung verdienen".

Der ungesunde Einfluß der pharmazeutischen Industrie hat sich mittlerweile zu einem weltweiten Skandal ausgewachsen. Er verzerrt die medizinische Forschung, er korrumpiert die medizinische Praxis, und er untergräbt das Vertrauen der Patienten in ihre Ärzte. Die Unterdrückung unwillkommener Forschungsarbeiten über Antidepressiva, die Risiken bestimmter Medikamente gegen Arthritis und Ermittlungen über die mutmaßliche Bestechung von Ärzten in Italien und in den USA sind nur die jüngsten Beispiele in einer ganzen Kette peinlicher Begebenheiten.

Ein klassisches Beispiel für den Abbruch einer ganzen Kette von Moden bietet der Nobelpreis für Medizin in 2005. Die beiden australischen Ärzte Barry Marshall und Robin Warren wurden als Medizin-Nobelpreisträger für ihre bahnbrechenden Arbeiten über die Ursache von Magengeschwüren und Magenschleimhautentzündungen ausgezeichnet. Entgegen der damaligen Lehrmeinung wiesen sie nach, daß in den allermeisten Fällen ein winziges, spiralförmiges Bakterium, Helicobacter pylori, für die Magenerkrankungen verantwortlich ist.

Früher wurden vor allem Streß, falsche Ernährung und ein ungesunder Lebensstil als Ursache von Magengeschwüren verantwortlich gemacht. Als Folge davon trat dann auch oftmals Magenkrebs auf. Auch war in jedem Lehrbuch zu lesen, daß in dem hochsauren Milieu des Magens Bakterien überhaupt nicht lebensfähig seien. Als Warren und Marshall 1983 verkündeten, sie hätten aus Magenproben Bakterien isoliert und diese seien für die Magenerkrankungen verantwortlich, wurden sie als Spinner abgetan.

Jahrelang noch wurden sie ausgelacht, verspottet und mißachtet. Vor allem auch in der Pharmaindustrie wollte man über die Arbeiten der beiden australischen Ärzte, die damals in einem gewöhnlichen Krankenhaus in Perth arbeiteten, nichts wissen. Die Pharmaindustrie machte mit ihren Bindemitteln für Magensäure noch riesige Umsätze.

Es sollte noch viele Jahre dauern, bis Marshall und Warren das Mediziner-Dogma umstoßen konnten. Heute ist auch in den Arztpraxen anerkannt, daß Helicobacter pylori für rund 80 Prozent der Magenschleimhautentzündungen und 90 Prozent der Zwölffingerdarmgeschwüre verantwortlich ist. Bekannt ist mittlerweile auch, daß in den Industrienationen etwa 40 Prozent der Menschen mit dem Erreger infiziert sind. In den Entwicklungsländern sollen die Infektionsraten noch höher sein. Die Infektion erfolgt meist schon im Kleinkindalter. Vermutet wird, daß sich die Kinder bei der Mutter anstecken. Unbekannt ist jedoch noch, warum nicht bei allen Infizierten auch Magenerkrankungen auftreten.

Dank der Arbeiten von Marshall und Warren hat sich heute die Behandlung von Magengeschwüren drastisch verändert. Wurde früher die Magensäure mit Medikamenten neutralisiert,
häufig auch der Magen operiert oder der Kranke psychotherapiert, reicht heute eine 7-tägige Therapie mit zwei verschiedenen Antibiotika aus, um das Magenleiden in den Griff zu bekommen. Die Rückfallquote bei Geschwüren wird heute nach einer Behandlung mit "nahezu null" angegeben. "Die Arbeit von Marshall und Warren brachte eine der radikalsten und wichtigsten Wenden der vergangenen 50 Jahre in der Wahrnehmung eines Krankheitsbildes", lobte deshalb auch die britische Royal Society die beiden Nobelpreisträger.

Traditionelle Wissenschaft steht in der Tradition von Denkmodellen, die sie immer weiter verfeinern kann durch fortlaufende Falsifikation, also durch Prüfung der Möglichkeiten von Unrichtigkeit, nicht aber durch Beweis der Richtigkeit. Nicht Wissenschaft, sondern vielleicht Kunst verbürgt Wahrheit. Verstehen ist untrennbar von der Anwendungswirkung des Verstandenen - Resonanz der Wellenpakete. Jedes Verstehen und Nichtverstehen hat eine Wirkung. Die Anwendung erfolgt also nicht nachträglich. Niemand kann einfach nur lesen, was dasteht; man sieht auch, was nicht drinsteht.

Das Verstehen ist in eine innere, persönliche Logik von Fragen und Antworten eingebettet.
[3] Der Text stellt uns eine Frage - und damit sind wir betroffen von Tradition, auch der Tradition von Erwartungen und Wahrnehmungen, also auch unserer Tradition von Unwissen II. Ordnung. Meines trifft auf Deines.

Als Beispiel: Es ist wichtig zu bemerken, das nicht etwa das geozentrische Weltbild des Ptolemäus, wonach die Erde im Zentrum des Kosmos ruht, falsch war. Denn es konnte die beobachtbaren Phänomene der Planetenumläufe korrekt beschreiben und sicher vorausberechnen. Das heliozentrische Weltbild von Kopernikus und Kepler ist jedoch allgemeiner, einfacher und damit für uns leichter handhabbar - und auch ästhetischer. Dieses Gefühl der Ästhetik ist ein intuitiver Ausdruck des uns allen innewohnenden Wissens um die Klarheit der hinter unserem persönlichen Erleben stehenden Geisteswelt.

Verstandene Fragen können nicht einfach zur Kenntnis genommen werden. Sie werden durch das Verstehen zu eigenen Fragen. Und schon stecken wir in der unaufhebbaren Vorurteilsstruktur des Verstehens. Meine leibhaftige Tradition reicht vermutlich zurück über die ununterbrochene Kette von Ei- und Samenzellen vielleicht bis zum ersten Einzeller in einer Pfütze im Präkambrium. Wo kommst Du her?

Der Rationalismus genügt oft nicht seinen eigenen Normen. Dieses Fehlen erscheint mir symptomatisch. Denn erstens sind Regelverletzungen produktiv, ist Anarchismus in der Wissenschaft nicht Störprogramm, sondern Entwicklung. Und zweitens ist unsere Auffassung von der Wissenschaft lediglich eine "Tradition". Die Wissenschaft ist nicht "neutral", und sie funktioniert nicht wie ein Computerprogramm, das seine Fehler selber erkennt und dann verbessert. Lassen sich überzeugende qualitative Unterschiede finden zwischen Religion und Wissenschaft? - Vor allem gegen Andersgläubige gehen szientistische
[4] Rationalisten oft recht irrational vor.

Der Glauben, daß es Regelmäßigkeiten in der Wissenschaft gibt, stützt sich vor allem auf die Tatsache, daß es mindestens des Wegsterbens einer Professoren-Generation, der Traditionshalter, bedarf, bis eine neue Erkenntnis zum Allgemeingut der Wissenschaftsgemeinde werden kann.

Das Newtonsche Weltbild der klassischen theoretischen Physik und damit der exakten Naturwissenschaften überhaupt geht v. a. auf sein 1687 erschienenes Hauptwerk »Philosophiae naturalis principia mathematica« (deutsch »Mathematische Prinzipien der Naturlehre«) zurück. Es ist eine Lehre, die sich an der Feinmechanik des Uhrmacher-Handwerks der Newton-Zeit orientiert. Eine ganz andere, viel umfassendere Physik haben wir seit einhundert Jahren. Den Zugang zur Quantentheorie lieferte die 1900 von M. Planck formulierte Quantenhypothese. Die Quantentheorie wurde von A. Einstein (Lichtquantenhypothese, 1905), N. Bohr (1913) und A. Sommerfeld (Atommodell) sowie L. de Broglie (Materiewellen, 1923/24), W. Pauli (Pauli-Prinzip, 1924) weiterentwickelt und von W. Heisenberg, M. Born, P. Jordan, E. Schrödinger, P. A. M. Dirac u. a. (1925/26) zur Quantenmechanik ausgebaut.

Doch diese einhundert Jahre haben nicht ausgereicht, dass wenigsten einige Grunderkenntnisse dieser Theorie auch die Biologie und Medizin erreicht hätte. Hier wird überwiegend noch immer nach Uhrmacher-Art gedacht - der Körper als chemisch-physikalisches Räderwerk - ohne Felder, ohne Geist und Seele, ohne Leben.

David Bohm, ein Schüler und Protegé Einsteins, gilt auf seinem Gebiet der theoretischen Physik als einer der grossen Denker des 20. Jahrhunderts. Er umschreibt das so: "Die Relativitätstheorie hat eine Anzahl fundamental neuer, subtiler Konzepte von Raum, Zeit und Materie aufgestellt. Wesentlich für uns ist dabei, daß der Begriff getrennter und unabhängiger Teilchen als grundlegender Bestandteil des Universums aufgegeben werden mußte. Statt dessen wurde als grundlegender Begriff das Feld eingeführt, das sich kontinuierlich durch den Raum ausdehnt. Daraus mußte der Begriff des Teilchens entwickelt werden. Diese Idee läßt sich mit dem Bild einer Flüssigkeitsbewegung, eines Strudels erläutern. Es gibt in dieser Flüssigkeit ein sich wiederholendes stabiles Muster. Man könnte dies als Wirbel vorstellen, auch wenn es sich nicht um einen echten Wirbel handelt. Es gibt nur ein Fließmuster des Wassers. Aber Wirbel ist ein geeignetes Wort, um dieses Muster zu beschreiben. Wenn man nun zwei Wirbel nahe genug zusammenbrächte, dann würden sie sich gegenseitig beeinflussen und ein ganz anderes Muster erzeugen und schließlich, wenn man sie eng genug aneinanderbrächte, in einen Wirbel verschmelzen. Man kann feststellen, daß es eine inhärente Wechselwirkung dieser Muster gibt, aber daß eine ungeteilte Ganzheit der Fließbewegung die zugrundeliegende Wirklichkeit darstellt. Getrennte Einheiten wie Wirbel sind relativ konstante und unabhängig voneinander operierende Formen, die in Wahrnehmung und Gedanken vom Ganzen abstrahiert werden."

Bohm zufolge bilden nicht kleinste diskrete materielle Bausteine die Basis, wie im überholten materialistischen Verständnis der Wirklichkeit. Eher bildet die Grundlage ein geistiges Prinzip der Einfaltung und Entfaltung von allem in allem, auf der dann Objekte sichtbar werden. Die sichtbaren Objekte sind demzufolge sekundär. In der Medizin und Biologie ist das noch nicht zum Allgemeingut der Wissenschaftsgemeinde geworden, höchstens im Ansatz in Teilbereichen. Diese einhundert Jahre haben nicht ausgereicht, dass wenigsten einige Grunderkenntnisse dieser Theorie auch die Biologie und Medizin erreicht hätten. Hier wird überwiegend noch immer nach Uhrmacher-Art gedacht - der Körper als chemisch-physikalisches Räderwerk - ohne Felder, ohne Geist und Seele, ohne Leben.


Wie die Forschungsgeschichte zeigt, beruht der Fortschritt in der Wissenschaft, gemessen an den Wissenschaftskriterien und der jeweils herrschenden Theorie, auf Irrtümern, Irrationalitäten und abgelehnten Theorien. Wissenschaftsfortschritt konnte sich nur dort durchsetzen, wo geltende Wissenschaftsregeln und die soziopolitische Machtsituation ignoriert, psychologische Aspekte einbezogen und die herrschende Rhetorik durch eine neue Beobachtungssprache ersetzt wurden. Dies läßt sich finden sowohl für die kopernikanische Revolution als auch für die moderne Atomtheorie und die Wellentheorie des Lichtes. Es waren nicht die besseren Argumente der Grund, daß sich die neuen Theorien durchsetzten, sondern günstige psychologische Bedingungen und Propaganda[5]. Oder, der Stand der Planeten[6]? Doch jeglicher Wissenschaftsfortschritt verändert nur Denk-Modelle!

Paul Feyerabend gilt mit seinem Schlagwort vom "Anything goes" als einer der Stichwortgeber postmoderner Theorie- und Praxisbildung. Den einen, in der Regel Künstler und sich anarchistisch gerierende Studenten, wurde er damit zu einer Art Säulenheiligen. Anderen aber, in der Regel sich seriös dünkenden Philosophieprofessoren und Wächtern über die strenge und korrekte Lehre der Wissenschaften, erschien Feyerabend als Scharlatan und der entscheidende Türöffner von Geistlosig- und Beliebigkeit nicht nur an den Universitäten. Unrecht hatten beide Seiten, das zeigt der Autor des Textes "Erkenntnis und Bilder", der Bremer Kunstwissenschaftler Michael Glasmeier, argumentativ so einleuchtend, wie man es sich nur wünschen kann. Feyerabend ging es mit seinem Plädoyer für einen Methodenpluralismus um eine Wiedergewinnung des Möglichkeitssinns in der Entscheidungsfindung. Da jede Entscheidung, ob staatspolitisch oder individuell, mit dem Ausschluss anderer Möglichkeiten arbeiten muss, bleibt immer ein unbearbeiteter Rest.

Methodenpluralismus ist für Feyerabend also nichts anderes als der Versuch, der Sackgasse der einseitigen Entscheidung zu entkommen. Trash und Soaps stehen dabei neben dem klassischen griechischen Theater, ohne das eine der Optionen die andere dominiert oder ausschließt. Wobei der Ausschluss zum Schreckgespenst Feyerabends überhaupt wird. Deshalb auch wird ihm der Dadaismus in den Sechzigerjahren zum Erkenntnisinstrument. Dada war im Unterschied etwa zum Surrealismus keine Schule, sondern eine Bewegung. Und Bewegungen unterscheiden sich von Schulen dadurch, das sie keine reine Lehre vertreten und in der Folge auch auf Ausschlussverfahren und Tribunale verzichten können.

Außerdem hat Wissenschaft sich in ihren Modellen im Laufe der letzten 150 Jahren mehr und mehr von der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit losgelöst und durch mathematisierendes Denken nur mehr mathematisch erfaßbare Strukturen des Realen aufgedeckt. Die beispielsweise in Computern schaltbare mathematische Kalkülsprache hat der Wissenschaft dazu verholfen, sich nicht nur in den Naturwissenschaften gegenüber Sinnfragen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verselbständigen und Nicht-Kalkulierbares als "nicht real" selbst in den Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften auszuklammern. Die mathematische Entsinnlichung der Denkprozesse hat allmählich zu einer Lebensumwelt und Lebensweise geführt, der die Menschen körperlich und geistig nicht mehr gewachsen sind.

Sie wirken, unsere Dias im Kopf, mit denen wir uns die "objektive" Realität machen. Der virtuelle Virtuose ist identisch mit seinem virtuellen Kunstwerk. Und er kann es kreativ erweitern oder es zerstören.



  • [1] Aus dem Markt der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) von pro Jahr (2006) etwas mehr als 22 Milliarden Euro zieht die Pharmaindustrie an direkten Einnahmen zwischen 13 und 14 Milliarden. Davon gehen fünf Milliarden ins Marketing; zwei Milliarden sind allein für Pharmareferenten reserviert, 1,5 Milliarden für die ärztliche Fortbildung; eine Milliarde wird für so genannte Anwendungsbeobachtungen bereitgestellt. - In den Jahren 1990 bis 2001 sind gerade mal vier tatsächlich neue Präparate entstanden.
  • [2] taz vom 11.12.2008 "Medien wollen mit Medizin mehr verdienen"
  • [3] Daß viele historische Lehrstühle mit ehemaligen Nazis oder Mitläufern besetzt waren und noch nach 1945 wurden, ist ja bekannt (Vgl. Götz Aly mit Susanne Heim "Vordenker der Vernichtung", 1991, über den Beitrag namhafter deutscher Historiker an der Planung der Vertreibung und Vernichtung der Juden in Polen). Daß aber auch die Aufarbeitung der NS-Zeit zunächst "Ehemaligen" oblag, während frühere KZ-Häftlinge, Emigranten und Antifaschisten als "parteilich" ausgegrenzt wurden, belegt die nahezu ungebrochene Blindheit der deutschen Universität. Daher konnten bahnbrechende Dokumentationen und Studien zum Holocaust und zum Personal, das den millionenfachen Mord plante und durchführte, zunächst nur am Rand oder außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entstehen. Als Joseph Wulf (1912-1974) 1961 den ehemaligen "Stadtarzt" von Warschau, Wilhelm Hagen, der es zum Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes gebracht hatte, als "Helfershelfer" darstellte, kam es zum Prozeß, und die entsprechenden Seiten mußten geschwärzt werden. Dieser Fall ist exemplarisch - für die Historiker und die Justiz. (Nicolas Berg: "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung". Wallstein, Göttingen 2003). Vgl. auch Götz Alys "Hitlers Volksstaat - Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus", S. Fischer Verlag, 2005; "Der Holocaust war der größte Massen-Raubmord der modernen Geschichte"
  • [4] Szientismus, kritische Bezeichnung für Versuche der Übertragung von Methoden und Prinzipien naturwissenschaftlicher Forschung (insbesondere der Physik) auf die Methoden und Prinzipien der Human-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Vgl. auch <http://www.psychophysik.com/html/re-061-skeptizismus.html>
  • [5] Paul Feyerabend: "Wissenschaftstheoretische Plaudereien - Originaltonaufnahmen 1972 - 1992"; CD, supposé, Köln
  • [6] Theodor Landscheidt: "Astrologie - Hoffnung auf eine Wissenschaft?"; Innsbruck, 1994



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