Selbsterkenntnis und Eigensinn


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III Personaler Bezug

13 Anhang > 13.1 FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Heft 4 - 09/1982


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III Personaler Bezug

10. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN erlernen 50
11. Antipädagogische Gruppendynamik 53
12. Beispiele 58
13. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN wie macht man das 68



10. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN erlernen

Wie macht man das denn, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN? Wir sind dies immer wieder gefragt worden. Wie kann ich das lernen, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN? Wir haben immer deutlicher erkannt, daß es da einen Unterschied gibt. Einmal steht da die Information, die Mitteilung an unser Denken: "Es geht auch ganz anders mit Kindern. Jeder kann aufhören mit dem Oben-Unten. Gleichberechtigte Beziehungen sind möglich und sinnvoll und machen Freude." Zum anderen gibt es auch die Botschaft an unser Gefühl, die Emotion: "Du kannst Dich mögen, denn Du bist schön. Du kannst Dir Zeit lassen. Du - Dein Ich wartet auf Dich -
DU wartest auf Dein Vertrauen."

Wir haben erkannt, daß der Weg zum Erlernen von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN der Weg zu unseren Gefühlen ist. In uns, in unserem gefühlsmäßigen Selbstverständnis beginnt sich etwas mitzuteilen: Ein Flüstern, ein wortloses Geben und Nehmen, ein sanftes Hin und Her, ein Fluten in neue alte zugeschüttete Räume. In uns wächst es - wir wachsen - wir erneuern uns. Ohne unser Zutun, nur mit der Kraft, die aus uns kommt: dem Vertrauen, das wir in uns selbst haben.

Die alten aus Unterdrückung herrührenden Gefühle - die der pädagogischen und herrschaftsorientierten Tradition - stemmen sich gewaltig gegen diese sanfte Art zu leben. "Du mußt Dich verändern", "Du mußt FREUNDSCHAFT MIT KINDERN lernen", "Du mußt ein Kinderfreund sein". Die alten Erziehungsgefühle blasen zum letzten Gefecht. Sie spannen sich auf einmal vor das FREUNDSCHAFT MIT KINDERN -Gefährt, um unter neuer (FREUNDSCHAFT MIT KINDERN-)Flagge doch letztlich die zu sein, die vorneweg marschieren und die Richtung angeben. Diese alten Gefühle versuchen den pädagogischen Supertrick, um den antipädagogischen Kern von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN auszuhöhlen. Und sie haben eine scharfkantige Waffe: ANGST. Doch auch sie, diese alten Gefühle, sind Teil von uns. Wenn wir sie kommen lassen und sie da sein lassen (in Ruhe lassen, uns auch ihnen anvertrauen, nicht vor der ANGST, die sie ausstrahlen, in FURCHT und SCHRECKEN geraten, sie uns nicht wegerziehen oder sonstwie forttreiben müssen) - dann werden sie auch wieder gehen, zu ihrer Zeit. Und eines Tages werden wir sie sogar gelassen besuchen können. Als Museumsstücke, Zeugen aus der Zeit der Unfreiheit.

Nun - es geht um unsere Gefühle. Es geht darum, daß wir uns auf uns selbst einlassen. Es geht nicht darum, daß wir uns VERSTEHEN, daß wir nur mit unserer Sprache, mit verstandesmäßig geformten Botschaften, sagen können, was mit uns ist. Es geht darum, daß wir uns selbst nah und vertraut sind, daß wir uns FÜHLEN. Statt "verstehen" sagen wir leichter "wir wissen um uns".


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Wir sind uns unserer selbst bewußter als früher. Dies müssen wir nicht, sozusagen als Beweis unserer nunmehr größeren Bewußtheit, in Sprache ausdrücken. Wir können es versuchen, aber es ist nicht nötig. Es ist ganz so wie mit vielen anderen Dingen auch, die wir tief in uns wissen Es ist ein sicheres Wissen, es kommt aus uns selbst. Wir sagen: "Wir wissen um uns selbst aus uns selbst. Wir fühlen uns in Verbindung mit den tiefen Dimensionen in uns, mit unserem Gefühl."

Wie aber soll das denn alles gemacht werden? Wie "funktioniert" das? Wir haben erfahren, daß es eine große Hilfe für uns war und auch weiterhin ist, wenn wir uns mit anderen zusammengetan haben. Mit anderen, von denen wir spürten, daß wir ihnen vertrauen kannten. Wenn wir mit solchen Menschen gemeinsame Zeit verbrachten. Und wenn wir dann - im Kreis dieser Unterstützer und im Vertrauen auf sie - uns selbst zu nähern begannen.

Solche Unterstützer waren zum einen junge Menschen. Wir haben sehr viel in ihrer Gegenwart über uns selbst erfahren. Indem wir die Angst vor ihnen verloren, verloren wir die Angst vor uns selbst. Wir stießen zu ihnen - und damit auch zu uns - vor durch die Mauern der pädagogischen Schrecken und Tabus, wir erkannten sie - und damit auch uns -, wie sie wirklich sind. Junge Menschen steckten uns mit ihrer Kraft, noch weitgehend sie selbst sein zu können, an. Diese Kraft und das Gefühl für das wirkliche Ich drangen durch die pädagogischen "Du bist kein selbstbestimmter Mensch"-Mauern bis zu unserem wirklichen Ich: Wir konnten uns befreien. Und wir konnten immer mehr falsche Verantwortlichkeiten ablegen. Wir waren auf dem Weg. Wenn wir die Unterstützung von erwachsenen Menschen suchten, dann geschah dies alles langsamer, aber es geschah auch dort. Wir trafen uns im kleinen Kreis und begannen mühsam, aber in gegenseitigem Vertrauen, uns selbst (in ihrer Gegenwart) hervorzuwagen. So weit, wie wir den anderen vertrauten, so weit konnten wir uns selbst annehmen. "Ich vertraue Dir so, wie ich mich traue, bei Dir ich zu sein." Kurz, wir akzeptierten uns selbst immer mehr und unterstützten uns darin untereinander. Jeder hatte Zeit für sich selbst in der Gegenwart der anderen.

Wenn wir FREUNDSCHAFT MIT KINDERN erlernen, denn wissen wir, daß wir auf dem Weg zu uns selbst sind. Wir sind dabei, Frieden und Freundschaft mit uns selbst zu schließen. Das ist die Weise, auf der wir dann zur Freundschaft mit den Kindern und auch mit den Erwachsenen kommen. Wir machen also bevor wir zu den anderen gehen - eine "große Wende" nach innen. Um für unsere Außenbeziehungen zu den anderen Frieden zu finden, kümmern wir uns zunächst um uns selbst. Dies ist eigentlich ein sehr einfaches Prinzip, und wir haben es für uns wiederentdeckt und erkannt, daß das Erlernen von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN so geht.

Da wir bei dieser inneren Wende auch Frieden und Freundschaft mit dem Kind in uns (unseren eigenen Kindheitsdimensionen) schließen, erhält der Name FREUNDSCHAFT MIT KINDERN eine dreifache Bedeutung, die wir sehr sinnvoll finden. Wir schließen Freundschaft mit vielen Arten von Kindern: Dem Kind in uns, dem Kind im anderen Erwachsenen und den anderen Kindern.

Noch etwas zum "Machen". Wie macht man das, wurden wir gefragt. Nun, es geht nicht mit ''Machen''. Solche Erfahrungen, solche Schritte "machen" zu wollen, ist eine typische pädagogische Denkweise. Wir haben Zugang gefunden zu anderen Möglichkeiten, sich selbst anzunähern, sich selbst zu finden als uns dies in der Tradition des "Machens" angeboten wird. Wir haben erlebt, wie sehr uns
dies geholfen hat: Daß wir NICHT "effektiv vorantreiben", uns selbst


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zu finden - sondern daß wir "es geschehen lassen". Wir vertrauen uns, unserer Kraft in uns, unserer Liebe in uns - wir überantworten uns uns selbst. Wir können mit einer großen ruhigen Kraft in uns sich entwickeln lassen, was sich dort in uns entwickeln wird. Es ist, als ob wir die Strahlen unserer Wärme nach innen, auf uns selbst, gerichtet haben - und nun UNS SELBST GESCHEHEN LASSEN. Im uralten taoistischen Prinzip des WU WEI (man könnte es mit AKTIVES NICHT-TUN übersetzen) haben wir eine der wichtigen Komponenten von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN wiederentdeckt: das antipädagogische Prinzip. Und so erleben wir, daß wir uns nicht mehr verändern
wollen - sondern daß wir uns verändern. Und so erleben wir, daß wir FREUNDSCHAFT MIT KINDERN nicht mehr erlernen wollen sondern daß wir es erlernen. Wir hören auf damit, uns verbessern, erziehen, verändern zu wollen (zu müssen) und vertrauen statt dessen unserer Lebenskraft, dem Sinn, der in uns lebt, und der uns ändert, wenn dafür die Zeit gekommen ist. Wir sind in einem tieferen und kraftvolleren Sinn bei uns als wir dies je in der pädagogischen Tradition sein können.

Wir fassen zusammen: Um neue, achtungsvolle und freundschaftliche Beziehungen zu den anderen - insbesondere zu den jungen Menschen - zu erlernen, kümmern wir uns zunächst um uns selbst ("innere Wende"). Wir wenden uns unserer eigentlichen, tieferen Dimension zu. Wir nehmen uns im Kreis von Unterstützern - Kindern oder Erwachsenen - die Zeit hierfür, die Zeit für unsere Gefühle. Wir können darauf verzichten, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN erlernen zu müssen oder dies angespannt zu wollen - wir vertrauen uns unserer inneren Weisheit, dem Sinn in uns, an. Dies erfordert viel Energie: Mut für uns selbst zu haben. Doch wir haben erkannt, daß dies der erste Schritt, der erste wichtigste Schritt zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist. Ihn allerdings müssen wir aktiv tun. Dieser erste Schritt ist sehr schwer zu erlernen, weil die lang erlernte pädagogische Tradition sich widersetzt. Wir können von uns berichten, daß dies der Beginn der Reise zu uns selbst, zur Freundschaft mit uns selbst und zur Freundschaft mit den anderen war. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN wächst uns nun zu - wenn wir uns um das Zuwachsen nicht aktivistisch kümmern, sondern wenn wir darauf vertrauen, daß uns dies zuwachsen wird. Anders ausgedrückt: Wir haben aufgehört, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN zu wollen - wir tun es.

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11. Antipädagogische Gruppendynamik


Das emotionale Lernen von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN geschieht auf der Basis der SELBSTBEGEGNUNG, wie sie eine der drei Grundlagen von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist.


Das Ziel

In der Selbstbegegnung kann es gelingen, den Kontakt zu dem Kindheitswissen um die eigene Einmaligkeit, Souveränität, Kraft, Schönheit und Würde wiederherzustellen. Die pädagogische Tradition verstellt uns von Geburt an den Blick für diese grund und im Grunde unzerstörbaren menschlichen Eigenschaften. In einem Klima psychodynamischen Vertrauens und mit der Unterstützung ebenfalls sich selbst suchender Erwachsener wird versucht, das neue Selbstverständnis eines "befreiten Erwachsenen" anzunehmen, der Frieden und Freundschaft mit dem Kind in sich - d.h. mit den Kindheitswahrheiten des Menschen - schließt.


Die Grundlagen

Die Antipädagogische Gruppendynamik hat therapeutische und antipädagogische Grundlagen. Ihre therapeutischen Grundlagen sind die von Carl R. Rogers gefundenen therapeutischen Größen, die antipädagogischen Grundlagen sind die Konsequenz antipädagogischen Gedankengutes, bezogen auf den Gruppenprozeß.


Therapeutische Größen:

AKZEPTANZ:
die Gruppenteilnehmer wünschen sich, sich selbst und die anderen akzeptieren zu können
KONGRUENZ:
die Gruppenteilnehmer wünschen sich, ohne Verstellung die sein zu können, die sie jetzt gerade wirklich sind
EMPATHIE:
die Gruppenteilnehmer wünschen sich, in die Gefühlswelt der anderen einschwingen und sie verstehen zu können

Antipädagogische Größen:

ERZIEHUNGSFREIHEIT:
die Gruppenteilnehmer verzichten sich selbst und den anderen gegenüber auf einen erzieherischen Anspruch; sie müssen nicht bessere Menschen werden und erwarten dies von anderen nicht
SOUVERÄNITÄT:
es gibt keinen Gruppenleiter; jeder Teilnehmer ist als von Geburt an zur Selbstbestimmung fähiger Mensch auch hier sein eigener Chef und Trainer; die Teilnehmer geben und nehmen voneinander gleichberechtigt Unterstützung.
SUBJEKTIVITÄT:
kein Gruppenteilnehmer weiß besser als die Betroffenen selbst, was für sie gut ist und wie sie ihre aktuelle Beziehung in der Gruppe gestalten; für die unmittelbar Beteiligten gilt nur ihre eigene Wahrheit; Außenstehende können jedoch mit ihrer Sicht zu den anderen hinzustoßen und so die Beziehung um ihre Person erweitern




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Der Prozeß

Das Geschehen in der Antipädagogischen Gruppendynamik ist dem Prozeß sehr ähnlich, den Carl R. Rogers in seinem Buch "Encountergruppen. Das Erlebnis der menschlichen Begegnung" (encounter = Begegnung) 1970 beschrieben hat. Ein wichtiger Unterschied liegt darin, daß in der Antipädagogischen Gruppendynamik es keinen Leiter oder besonderen Helfer (Facilitator) gibt. Die in Kalifornien durchgeführten Rogers'schen Encountergruppen des CENTER FOR STUDIES OF THE PERSON in La Jolla, von denen Rogers in seinem Buch berichtet, sind in ihrer Realisierung der Antipädagogischen Gruppendynamik jedoch so verwandt, daß die Prozeßelemente vergleichbar sind. Rogers führt 15 Prozeßelemente auf, deren Reihenfolge oft verschieden verläuft. Sie sind hier zusammengefaßt und zum Teil mit den von Rogers herangezogenen Beispielen aufgeführt.

1. Allgemeine Unsicherheit

Wer sagt uns, was wir tun sollen? Wer ist für uns verantwortlich? Was ist der Sinn der Gruppe? Einer äußert irgendein Problem und erwartet von der Gruppe eine Reaktion. Ein anderer hat nur auf eine Gelegenheit zum Reden gewartet und nimmt die Äußerung als Anknüpfungspunkt, um über etwas anderes und ihn betreffendes zu reden.

2. Widerstand gegen persönlichen Ausdruck

Was die Gruppenmitglieder zeigen, ist ihr öffentliches Selbst. Nur allmählich und voller Angst und Zweifel wagen sie es, auch etwas von ihrem inneren Selbst zu enthüllen. "Ich habe Schwierigkeiten, mit anderen Beziehungen aufzunehmen. Ich habe eine nahezu undurchdringliche Fassade. Nichts könnte durch sie hindurchdringen und mich verletzen. Diese Situation macht mich nicht glücklich, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll."

3. Beschreibung vergangener Gefühle

Trotz des Mißtrauens in die Gruppe und der Furcht vor Selbstenthüllung beginnt der Ausdruck von Gefühlen mehr Raum einzunehmen. Ein Teilnehmer berichtet von Problemen am Arbeitsplatz, ein anderer von Schwierigkeiten mit den Kindern. Gefühle, die auch jetzt noch da sind, werden in die Vergangenheit verlegt.

4. Ausdruck negativer Gefühle zu anderen Gruppenmitgliedern

Der erste Ausdruck wirklicher Hier-und-Jetzt-Gefühle zeigt sich häufig in negativen Einstellungen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern. Ein möglicher Grund besteht darin, durch den Ausdruck negativer Gefühle die Freiheit und Vertrauenswürdigkeit der Gruppe zu erproben. Ist sie wirklich ein Ort, an dem ich positiv und negativ sein und mich ausdrücken kann? Wenn ich sage, ich mag dich, dann bin ich verletzbar und kann zurückgewiesen werden. Wenn ich sage, ich mag dich nicht, kann man mich höchstens angreifen, und dagegen kann ich mich wiederum verteidigen.

5. Ausdruck und Erforschung von persönlich Wichtigem

Das einzelne Gruppenmitglied hat inzwischen erkannt, daß es sich hier zum Teil um SEINE Gruppe handelt. Es kann dazu beitragen, aus ihr etwas zu machen. Es geht das Wagnis ein und zeigt der


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Gruppe eine neue, tiefer gelegene Facette seines Selbst. Ein Mann erzählt, daß die Kommunikation mit seiner Frau gleich Null ist.

6. Ausdruck unmittelbarer Gefühle zu anderen Gruppenmitgliedern

Die Gruppenmitglieder beginnen, jene Gefühle auszudrücken, die sie anderen gegenüber im Augenblick empfinden. Diese Gefühle sind manchmal positiv, manchmal negativ. "Ich fühle mich durch dein Schweigen bedroht". "Du erinnerst mich an meine Mutter, mit der ich nie sehr gut ausgekommen bin". "Ich mag dein Lächeln und deine Wärme". Jede dieser Einstellungen kann in zunehmendem Klima des Vertrauens erforscht werden.

7. Entwicklung einer Heilungskraft der Gruppe

Einer der faszinierendsten Aspekte jeder Intensiv-Gruppe besteht darin, wie eine Anzahl von Gruppenmitgliedern eine natürliche und spontane Fähigkeit beweist, sich mit dem Schmerz und dem Leid der anderen hilfreich zu befassen. Sie versuchen auf ihre jeweils eigene Weise, den anderen zu helfen.

8. Selbst-Akzeptierung und beginnende Veränderung

Viele Leute glauben, daß Selbst-Akzeptierung einer Veränderung im Wege stehen müsse. In Wirklichkeit ist sie aber bei diesen Gruppen der Beginn der Veränderung. Es scheint, als lerne das Gruppenmitglied, sich selbst zu akzeptieren, es selbst zu sein und damit die Grundlage für eine Veränderung zu schaffen. "Und ich glaube, ich habe wirklich noch nie jemanden geliebt" - uns allen war klar, daß er sich in diesem Augenblick als lieblos und kalt akzeptierte.

9. Zerschlagung der Fassaden

Der Selbstausdruck einiger Gruppenmitglieder hat sehr deutlich gemacht, daß eine tiefere und grundlegendere Begegnung MÖGLICH ist, und die Gruppe scheint dies intuitiv und unbewußt anzustreben. Sie fordert vom einzelnen, manchmal liebevoll, manchmal heftig, er selbst zu sein, seine augenblicklichen Gefühle nicht zu verbergen und die Maske des normalen gesellschaftlichen Umgangs abzulegen.

10. Rückmeldung

Die Gruppenmitglieder erfahren, wie sie auf andere wirken. Wer sich vertrauenswürdig gibt, merkt bald, daß andere seine übertriebene Friedlichkeit gar nicht schätzen. Diese Erfahrungen können sehr beunruhigend sein, aber solange sie in einer Atmosphäre des Vertrauens gemacht werden, sind sie sehr konstruktiv.

11. Konfrontation

Manchmal ist "Rückmeldung" zu milde gesagt. Dann konfrontiert ein Teilnehmer einen anderen direkt. Diese Konfrontationen können positiv sein, aber häufig sind sie negativ. Nach einer Konfrontation geschieht es oft, daß sich die Gruppenmitglieder besser verstehen.


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12. Helfende Beziehungen außerhalb der Gruppensitzungen

Einer der erregenden Aspekte jeder Gruppensitzung ist die Tatsache, daß die einzelnen Mitglieder einander helfen, wenn einer Mühe hat, sich selbst auszudrücken oder sich mit einem persönlichen Problem herumschlägt oder aufgrund einer schmerzhaften Entdeckung in Bezug auf sich, selbst leidet. Das kann innerhalb der Gruppen geschehen, aber wesentlich häufiger geschieht es bei Kontakten außerhalb der Gruppensitzungen. Viele Menschen besitzen eine unglaubliche Begabung zu helfen und zu heilen, sobald sie sich dazu frei genug fühlen, und die Erfahrung in einer solchen Gruppe scheint ihnen diese Freiheit zu geben.

13. Die grundlegende Begegnung

Ein Mann berichtet unter Tränen von dem tragischen Verlust seines Kindes. Zum ersten Mal erlebt er seinen Schmerz voll und ganz, ohne seine Gefühle in irgendeiner Weise zurückzuhalten. Ein anderer Mann sagt zu ihm: "Ich habe noch nie zuvor wirklich körperlich unter dem Schmerz eines anderen gelitten. Mit allem, was ich bin, fühle ich mit dir." Die Menschen finden viel engeren und dichteren Kontakt zueinander als es im normalen Alltagsleben üblich ist. Dies ist wahrscheinlich einer der zentralsten, intensivsten und wichtigsten Aspekte der Gruppenerfahrung.

14. Ausdruck positiver Gefühle

Es scheint ein wesentlicher Teil des Gruppenprozesses zu sein, daß sich positive Gefühle und große Nähe ergeben, wenn in einer Beziehung Gefühle ausgedrückt und akzeptiert werden. Im Verlauf der Sitzungen stellt sich daher ein zunehmendes Gefühl der Wärme und des Vertrauens ein, das nicht nur auf positiven Einstellungen beruht, sondern auf dem echten Ausdruck positiver wie negativer Gefühle. Ein Gruppenmitglied: "Ich glaube, das hat etwas mit dem zu tun, was ich Bestätigung nenne - eine Art Bestätigung meiner selbst, der Einmaligkeit des Menschen".

15. Das Verhalten ändert sich

Das Verhalten innerhalb der Gruppe selbst ändert sich. Auch die Gesten ändern sich. Und die Stimmen werden manchmal lauter, manchmal sanfter, meist aber spontaner, weniger gekünstelt und gefühlvoller. Auch außerhalb der Gruppenerfahrung ergeben sich bei vielen Teilnehmern Veränderungen, manchmal geringfügig, manchmal umwälzend, manchmal deutlich, manchmal subtil. Eine Mutter schrieb kurz nach ihrer Gruppenerfahrung: "Die direkte Auswirkung auf meine Kinder war für mich und meinen Mann besonders interessant. Ich glaube, die Tatsache, daß eine Gruppe von lauter Fremden mich so akzeptiert und geliebt hat, war für mich derart stärkend, daß sich bei meiner Rückkehr zu Hause meine Liebe zu den Menschen, die mir am nächsten stehen, viel spontaner zeigte. Die Erfahrung, akzeptiert und geliebt zu werden und selbst zu lieben und zu akzeptieren wirkte sich auch auf die Beziehungen zu meinen engeren Freunden aus."


Die Folgen

Wie es auch unsere Erfahrung ist, ergeben sich Veränderungen bei den Menschen durch die Teilnahme an solchen intensiven Gruppen. Es ist für uns eine wichtige Folge, daß sich die Wiedergewinnung


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der eigenen Kraft, Würde und Souveränität auch in der Beziehung zu den Kindern positiv auswirkt. Wir haben erkannt, daß durch die intensive "innere Wende" - durch das Kümmern um das Kind in einem jeden selbst - genug Energie gewonnen wird, um frei werden zu können von den lang eingedrückten erzieherischen Mustern, die uns selbst und der Realität entfremdeten. Es wird Energie frei, den Wahnsinn, den wir als Kinder zum Überleben tiefer und tiefer in uns eindringen ließen und der unser Erwachsenenleben bestimmte, zunächst langsam und dann immer kraftvoller abzuschütteln. Hieraus folgt vieles - auch, daß wir unsere Beziehungen zu jungen Menschen neu gestalten.


Der politische Stellenwert

Die Energie, die durch die Begegnung mit dem wahren Selbst einem jeden wieder zur Verfügung steht und die jeden die Kraft, Sicherheit und Souveränität der frühen Kindheit wieder spüren läßt, hat auch einen großen politischen Stellenwert. In nicht-hierarchischen, gleichberechtigten Beziehungen sorgt jeder für sich und die anderen. Der selbstbewußte und in sich ruhende Mensch, der seine von Egoismus freie Selbstliebe wiedergewonnen hat, geht mit seinem Frieden auf die anderen zu. Ihm liegt daran, andere zu unterstützen und gesellschaftliche Mißstände zu beheben. Selbstbegegnung ist friedliche kraftvolle Revolution.


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12. Beispiele



12.1. Hans-Jürgen (Mein Weg zu FREUNDSCHAFT MIT KINDERN)

von Hans-Jürgen Prieb

Da ich nicht für andere reden kann, wie sie etwas lernen, möchte ich einige ganz persönliche Gedanken und Erfahrungen wiedergeben. Ich habe eine ungefähre Vorstellung im Kopf, was denn FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist. Ich versuche, es einmal in einem Satz auszudrücken. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eine auf gegenseitige Achtung fußende Beziehung zwischen jüngeren und älteren Menschen, eine Beziehung, die mir und dem anderen die Möglichkeit gibt, sich zu entdecken - all die Fähigkeiten, Schwächen, Wünsche, Bedürfnisse, Gaben, die einen jeden Menschen von jedem anderen Menschen unterscheiden - und sich zu entwickeln, zu dem hin, wovon
man glaubt und weiß, daß es gut für einen ist.

Ich werde mir über mich selber bewußter

Und damit ist klar, daß ich als erstes bei mir anfange - anfange, mich zu sehen, was ich tue, denke, wünsche -, daß ich mir über mich selber mehr bewußt werde. Ich kann das auch anders ausdrücken: Ich weiß, daß Freundschaft mit anderen Menschen auch bedeutet: Freundschaft mit mir selbst, daß Freundschaft mit jüngeren Menschen, Kindern, bedeutet: Freundschaft mit dem Kind in mir, mit dem, was meine eigene Kindheit zu meiner jetzigen Lebenssituation beigetragen hat. Wenn ich mir bewußter werde, wie ich mein Kindsein erlebt habe, dann kann ich eher begreifen, was es für ein Kind bedeutet, Kind zu sein. Ich weiß, daß es schwer ist, ganz alleine diesen Weg zu gehen. Mir hilft es, wenn ich mit anderen Menschen zusammen bin, die dieselbe Richtung wie ich eingeschlagen haben, wenn wir ein Stück dieses Weges zusammen gehen. Unsere Intensiv-Abende oder -Wochenenden, wo wir zu mehreren zusammenkommen, machen den Weg leichter

Ich weiß, daß ich FREUNDSCHAFT MIT KINDERN will

Wenn ich mich mit mir selber befasse, so versuche ich doch, nicht bei mir stehen zu bleiben, sondern meine Beziehung zu Kindern zu überdenken und damit zu erhellen. Ich weiß, daß ich nicht sage: FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eigentlich nicht schlecht, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN sollte man eigentlich machen, FREUNDMIT KINDERN ist eigentlich erstrebenswert, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN, da spricht nichts gegen, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN ist eine gute Sache ... Nein, ich weiß, daß
ich FREUNDSCHAFT MIT KINDERN will. Und ich rede nicht drum herum. Und dieses Wissen um mein Wollen verleiht mir Stärke. Mein Ziel ist klar, und ich fange einfach an aufzubrechen, es irgendwie zu erreichen. Ich weiß, daß ich oft in Gefahr bin, es aus den Augen zu verlieren - es gibt ja so viele Gründe: die Bequemlichkeit, die gesellschaftlichen Verpflichtungen, mein Beruf, meine Umwelt -, daß ich manchmal nur schwer zu durchdringende Dschungel oder Gebirge vor mir habe. Aber ich weiß um mein Wollen, weil ich weiß, daß FREUNDCCHAFT MIT KINDERN für mich gut ist.


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Ich lerne von Kindern

Wenn ich mich mit Kindern einlasse, versuche ich, ich selber zu sein, und das Kind, es selbst sein zu lassen. Ich bin hier, das Kind ist hier, wir
beide sind hier, und wir beide treten in Beziehung zueinander. Ich mische mich nicht in die Person des Kindes ein und möchte auch nicht, daß sich das Kind in meine Person einmischt. Wir helfen uns gegenseitig, soweit wir können; wir setzen uns auseinander, falls erforderlich; wir achten uns in unserem Tun, auch falls wir sehr heftig aneinandergeraten.

Mir hilft es, wenn ich zurückdenke an meine Kindheit, daran, wie ich war, als ich sieben, acht oder neun Jahre alt war, was ich damals dachte, empfand, wo und wann ich mich wohlfühlte, was ich damals nicht leiden konnte und vielleicht auch heute noch nicht leiden kann, was ich damals mochte und heute nicht mehr mag, was ich mit zehn oder elf Jahren schon alles konnte, ganz alleine ohne Einmischung anderer, was ich damals für Meinungen hatte, die heute noch dieselben sind oder ganz andere. Und oft erkenne ich mich im Handeln der Kinder wieder, entdecke ich etwas von mir. Und ich lerne von dem Kinde; ich lerne viel für mein persönliches Leben.

Ich lerne von Erwachsenen

Auch von Erwachsenen, mit denen ich zusammen bin, lerne ich viel. Sei es, daß ich mir sage: Nein, das verstehst du nicht unter FREUNDSCHAFT MIT KINDERN, das möchtest du nicht machen, das ist nicht dein Weg, so bist du nicht. Sei es, daß ich erfahre: Er handelt ja so wie ich; das wolltest du auch immer schon irgendwie so machen, wußtest nur nicht, daß es überhaupt so möglich ist; er hat dieselben Ängste wie ich, dieselben Schwierigkeiten; er löst das Problem auf diese besondere Art. Manchmal wird mir klar, wie selbstverständlich andere etwas tun, woran ich im Traume nicht gedacht hätte. Mir wird klar, daß ich das immer schon gewollt habe, das es bisher in meinem Innern versenkt gewesen war und jetzt durch das Tun oder Reden des anderen an die Oberfläche gekommen ist. Jetzt steht es mir zur Verfügung, und ich kann versuchen, damit umzugehen. Auch wenn ich lese, was andere über ihre Vorstellungen von FREUNDSCHAFT MIT KINDERN geschrieben haben, wird mir manches bewußter - sei es, daß ich ihm zustimme oder mehr ablehne. Ich werde mir sicherer auf meinem Weg.

Ich habe Vertrauen zu mir und dem Kind

Wenn ich mir sicherer werde, vertraue ich mir auch mehr, vertraue mehr meinen Fähigkeiten, meinen Wünschen. Habe ich aber mehr Vertrauen zu mir, werde ich wiederum sicherer auf meinem Weg. Vertraue ich mir, fällt es mir leichter, einem anderen zu vertrauen. Jede Beziehung zwischen zwei Menschen muß, wenn sie nicht oberächlich bleiben, sondern zur Entwicklung der eigenen und der anderen Persönlichkeit beitragen soll, ein großes Maß an gegenseitigem Vertrauen beinhalten. Das gilt gerade für die Beziehung eines Erwachsenen zu einem Kind. So wie ich Erwachsener sofort merke, wenn jemand anderes mich ernst nimmt, versucht, mich zu verstehen, mich mit meinem Wesen annimmt und damit sein Vertrauen in mein Handeln und meine Person ausdrückt - und ich merke, daß es mir gut tut -, so spürt auch ein Kind, wenn es von mir in seinem Tun geachtet wird - egal, ob ich es nun als
für mich gut oder nicht gut empfinde -, es spürt, daß ich seine Persönlichkeit nicht manipulieren will, es spürt mein Vertrauen zu ihm. Und aus diesem Vertrauen wächst Kraft, sein Leben zu erforschen und seinen eigenen Weg zu gehen.


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12.2. Melanie (Beziehung Erwachsener - Kind)

von Hubertus v.Schoenebeck

Melanie, 3 Jahre alt, war Teilnehmerin einer Gruppe meines Forschungsprojekts über neue Kommunikationsformen zwischen Erwachsenen und Kindern. Wir saßen am Rand eines Flusses: Melanie, ihre Mutter Kerstin, zwei Freundinnen von Kerstin und ich. Zunächst drang Kerstin auf Melanie ein, nicht zu nahe an das Ufer zu gehen. Es war eine senkrechte Uferböschung, etwa 3 Meter unter uns der Fluß. Kerstin versuchte, Melanie zu erziehen. Sie sollte lernen, daß es gefährlich ist, "so" nahe an den steilen Abhang zu gehen. Neben der Angst, die von Kerstin ausging, kam auch der deutliche pädagogische Anspruch: "Ich weiß, ab wann es für dich gefährlich ist. Ich bin für dich verantwortlich, du kannst noch nicht selbst entscheiden, wie weit du vorgehen darfst."

Ich begann zu überlegen. Wieder einmal machte ich mir klar, daß Kinder auf solche pädagogisch-ambitionierte Erwachsenen in ganz spezifischer Weise reagieren: Ihre Selbstbestimmungskompetenz ist nicht akzeptiert, und sie befinden sich dann in Auseinandersetzung mit diesem Übergriff. Ich spürte, daß auch Melanies Konzentration vom unverstellten Die-Welt-Begreifen wegorientiert war, hin auf Kerstin und ihre pädagogische Botschaft. Es war, als ob sie zwischen sich und die Welt die Auseinandersetzung mit dem Erwachsenen geschoben bekommen hätte, wie Nebel. "Ihre Fähigkeit, die Wirklichkeit ungebrochen wahrzunehmen, ist beeinträchtigt und gestört", dachte ich. Ihr Spiel war gestört, sie selbst war gestört. Die ganze Situation war voll von Störung.

Wie ist das dann mit den Erwachsenen? Auch sie sind gestört, wenn sie sich so verhalten, so verhalten müssen - durch all das, was in ihnen an "Es könnte passieren" auftaucht und durch die Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden von der pädagogisch eingestellten Umwelt, wenn tatsächlich etwas passiert. Wegen der von ihnen ausgehenden Störung erfahren diese Erwachsenen nicht, wie Kinder sind, wenn sie etwas ungestört tun. Sie erfahren nicht, wie Kinder tatsächlich sind. Sie erfahren nicht, wie Kinder auf die Anforderungen der Realität reagieren. Die in der pädagogischen Tradition lebenden Erwachsenen haben keinen Zugang zum selbstbestimmten jungen Menschen. Der Zwang, sich "pädagogisch richtig" und "verantwortlich" zu verhalten, reißt diese Erwachsenen fort von der offenen, vertrauensvollen und unverstellten Begegnung mit Kindern. Mir war bewußt, daß Kerstin Melanie verfehlte - pädagogisch gezwungen, wie sie war.

Ich kannte Melanie aus den Gruppen- und Einzeltreffen des Projekts. Wir hatten eine antipädagogische Kommunikation, unsere Beziehung war eine FREUNDSCHAFT MIT KINDERN -Beziehung. Ich sah ihr Gesicht, und ich wußte, daß sie jetzt um ihre Identität kämpfte. SIE wollte ALLEIN entscheiden, wie weit sie vorgehen kannte. Melanie war verstrickt in die Abwehr-Kommunikation mit Kerstin. Was sie tat - zur Böschung gehen, Gras abrupfen, vor sich hinsehen - war durchdrungen von dem Eingeflochtensein in das, was von Kerstin ausging: Dem Anspruch, besser zu wissen als sie selbst, was das Richtige für sie sei.

Ich schwieg und beobachtete. Es ist nicht meine Aufgabe, einem erziehenden Erwachsenen "die Erziehung auszutreiben". Ich litt unter Kerstins Verhalten. Und ich bot mich - wortlos, ohne Aktion Melanie an, falls sie nach mir suchen würde.


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Melanie begann, mit mir zu spielen. Die Böschungsfrage war ungelöst, zu Kerstin gab es so etwas wie einen Waffenstillstand, mit dem Kerstin wohl zufrieden war. Und: Kerstin vertraute mir ihre Tochter an. Ich kam mit Melanie näher zur Böschung. In mir war keine Angst. Ich traute ihr zu, die Böschungsfrage selbst zu entscheiden. Und ich wußte auch, daß ich mich in einem Unglücksfall auf mich verlassen konnte. Melanie und ich: Wir beide konnten uns auf die Situation und aufeinander einlassen.

Und dann erlebte ich, wie ein junger Mensch von drei Jahren sich mit dem Fluß, den Strudeln, der Gefahr, dem Risiko, dem Steinewerfen, den Blumen, der Sonne, dem Wind beschäftigte, wie sie lebte, lachte, ängstlich war, mutig war, stolz war, sich erkundete und die Welt begriff. Wir waren in einer vertrauten, sehr nahen Beziehung, und es war etwas von Achtung, Geheimnis und Andacht zwischen uns. Obwohl sie nichts direkt mit mir tat und ich ihr nur gelegentlich Grasbatzen locker machte zum Hineinwerfen in den Fluß, erlebten wir dabei auch uns. Die anderen waren vergessen, und wir begegneten uns als gleichwertige und freie Menschen in einer tiefen emotionalen Dimension: So, wie sie sich vertraute, konnte ich mir und ihr vertrauen. Ihr Selbstvertrauen, dem ich mich jenseits jeden pädagogischen Ballasts aufgeschlossen hatte, erreichte mich ungehindert und fegte jedes Bedenken, daß sie zu Schaden kommen könnte, fort. Ich spürte ihre Kraft und ihre Stärke so, wie ich mir in ihrer Gegenwart selbst sicher war.


12.3. Elke (Beziehung Berufserwachsene - Kind)

von Ute Gruschka

Zum Glück arbeite ich zur Zeit gerade in einem heilpädagogischen Kinderheim, und deshalb fehlt es mir nicht an Beispielen. Erst einmal ist meine Haltung/Einstellung zu Kindern wichtig, denn die Kinder fühlen, ob Du sie akzeptierst oder nicht, ob Du sie nett findest oder blöd, dumm oder normal. Auf diese Deine Einstellung reagieren die Kinder dann und mir passierte folgendes:

Ich habe jede Menge Briefe geschrieben, Anfragen nach Ferienfreizeiten für die Kinder im Sommer, und jetzt bin ich müde und frage Elke, ob sie nicht Lust hätte, die Briefe in den Briefkasten zu stecken. Ihre Antwort: "Nee", ich: "Schade, dann muß ich wohl selbst gehen." Elke: "Oh ja, dann komme ich mit." Noch ehe ich begriff, was das bedeutete, sagte ich: "Toll, dann brauche ich nicht allein zu gehen." Und wir beide zogen los. Auf dem Weg, zum und vom Briefkasten, erzählte Elke mir dann ihre Sorgen, die sie in der Schule hat, und wie schrecklich gemein und ungerecht das alles ist (es gab Zeugnisse).

Das alles hätte ich sicher nicht erfahren, wenn ich wie ein normaler Pädagoge reagiert hätte, z.B. so: "Was, du willst die Briefe nicht einstecken gehen, obwohl ich die ganze Arbeit eben für euch gemacht habe? In Zukunft werde ich auch nichts mehr für dich tun!" Das war dann der beleidigte Erzieher (Methode: Liebesentzug).
Oder: "Elke, du könntest dir ruhig mal Lust machen! Die Welt ist nicht nach dem Lustprinzip so geworden, wie sie ist, sondern nach dem Leistungsprinzip." Das ist dann der realistische marxistisch /sozialistisch angehauchte Erzieher gewesen (Methode: moralische Drohung /Unverständnis zeigen).


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Oder: "Blödes Volk!. Du könntest ruhig mal etwas gefälliger sein. Hau bloß ab, du Kuh!" Der fiese Erzieher (Methode: schimpfen, die Kinder erniedrigen, Unverständnis zeigen).
Oder: "Morgen werde ich zur Strafe keinen Frühstückstisch für euch decken! Das hast du jetzt angerichtet!" Das ist dann der autoritäre Erzieher gewesen, dem aus Verzweiflung keine andere Idee kam, als die Methode "Strafe" anzuwenden.
Oder: "Du könntest doch mal überlegen, ob du nicht auch etwas dazu beitragen willst, wenn wir alle zusammen in die Ferien fahren wollen. Was meinst du?" Das war der fortschrittliche Erzieher, der mit "demokratischen" Mitteln seine Ziele durchzusetzen versucht.
Oder: "Ich kann gut verstehen, wenn du keine Lust hast. Bedrückt dich etwas"? Der psychologisch versierte Erzieher (Methode: Hintergründe ausleuchten, um dann gezielt und "effektiv" zulangen zu können).

Es gibt ja noch soo endlos viele pädagogische Möglichkeiten, auf Elke zu reagieren. Doch diese sollen als Beispiel reichen, denn sie hätten alle nie zu dem Ergebnis geführt, daß mein Verhalten hatte: Elke erzählte mir vertrauensvoll ihre Probleme.

So kann Nicht-Erziehung, so kann FREUNDSCHAFT MIT KINDERN also sein. Es hätte auch anders aussehen können, z.B.: "Ach Mensch! Ich bin traurig, daß mir niemand hilft." Vielleicht wäre Elke dann doch gegangen, weil sie Verständnis für mich gehabt hätte.
Oder: Elke: "Mir hilft auch niemand." Denn hätte ich erfragen können, wo sie denn gern Hilfe bekommen würde.
Oder: Elke: "Gut, ich helf dir, aber du mußt mitkommen."
Oder eben noch ganz anders. Es gibt genau so viele antipädagogische Möglichkeiten zu reagieren wie pädagogische. Der Unterschied dabei liegt "nur" in den echten, den eigenen Gefühlen entsprechenden Reaktionen und der inneren Haltung, die frei ist vom "Ich weiß, was für Dich gut ist".

Das Ergebnis so einer Kommunikation wird auf jeden Fall immer sein: Wir haben Verständnis füreinander und versuchen, unseren Kräften entsprechend und unseren Möglichkeiten entsprechend uns gegenseitig eine Stütze zu sein. Es kann auch vorkommen, daß mensch überfordert ist und dann mal unangemessen reagiert, also gemeine und erniedrigende Worte sagt. Doch dann bleibt uns immer noch der Weg, uns über unser Verhalten klar zu werden und uns zu entschuldigen.


12.4. Rainer (Beziehung Eltern - Kinder)

von Rainer L.Rappenecker

Ich möchte mit der Frage beginnen: Wie bin ich auf FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gekommen? Lange bevor ich den Förderkreis kannte, fiel mir als kinderreichem Familienvater auf, daß ich mich habe traditionell in den bekannten Erziehungskrieg hinlassen durch all das, was ich aus der Überlieferung wußte und noch in der Ausbildung zum Sozialarbeiter gelernt hatte. Mir war unwohl dabei, und ich fing an, eine andere Form des Umgangs mit meinen Kindern zu suchen und zu erproben. Eigentlich fing dies genau vor 15 Jahren an, als unser Jüngstes, der einzige


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Sohn nach fünf Mädchen, geboren wurde. Ich nahm mir vor, mit diesem Kind von Anfang an, mit den anderen ebenfalls ab sofort, nur noch partnerschaftlich-freundschaftumzugehen.

Zugegeben, meine Erkenntnisse hierzu waren Ausfluß meiner Berufsarbeit, bei der ich nicht nur im Laufe der Jahre gemerkt hatte, daß eine "erzieherische Haltung" im Umgang mit Jugendlichen nichts bringt, sondern innerhalb derer ich mich einer Zusatzausbildung nach den Methoden der "Sozialen Einzelhilfe" durch "klientenzentrierte, nicht Beratungsgespräche" nach Rogers unterzogen hatte. Plötzlich spürte ich - im Beruf wie zu Hause -, daß es viel ergiebiger und auch persönlich frohmachender war, Kindern und Jugendlichen erziehungsfrei und partnerschaftlich-freundschaftlich zu begegnen, daß also BEZIEHUNG besser ist als ERZIEHUNG. Von da an lief alles viel glücklicher und erfreulicher ab. Erst Jahre später begegnete ich dann einer jungen Frau, die sich im Bereich der Betreuung jugendlicher Straffälliger ehrenamtlich betäund mich auf das Buch von Ekkehard v.Braunmühl "Antipädagogik" aufmerksam machte. Ich las in diesem Buch und stellte fest, daß es mit seinen Aussagen genau das trifft, was ich selbst im Laufe der Jahre herausgefunden hatte: ERZIEHUNG? - NEIN DANKE!

Ich kann heute sagen, daß nunmehr 15 Jahre Praxis in FREUNDSCHAFT MIT KINDERN im häuslichen Bereich ebenso wie im Beruf hinter mir liegen, und daß mich diese mitmenschliche Lebensweise auch ganz persönlich glücklicher gemacht hat. An meinen eigenen Kindern durfte ich erleben, daß auch sie freier und glücklicher geworden sind und heute selbstbewußt spüren, das sie in ihren Eltern die besten Freunde haben. Früher habe ich meinen Kindern "die Hand gereicht", um sie "dahin zu führen", wohin man glaubte, sie in ihrem eigenen Interesse leiten zu müssen. Doch das "Sich-Kümmern" hat aufgehört, das "Begleiten" hat begonnen. Und es ist schön, sein Kind begleiten zu dürfen,
mit ihm den Weg zu gehen, den es sich selbst aussucht. Man macht tausenderlei neue Entdeckungen dabei. Denn den Kindern gehört die Zukunft, sollen die sie also auch selbst gestalten dürfen


12.5. Jans (Beziehung Kind Eltern)

von Jans-Ekkehard Bonte

Wie lernt man FREUNDSCHAFT MIT KINDERN? Die Frage geht an mir vorbei. Wer ist "man"? Und mit welchen Kindern? Ich weiß, wer ich bin und kann über ein Stück meines Weges berichten. Bei meinem ersten und zweiten Kind - ich bin Vater von vier Kindern, zwischendurch hatte sich als fünftes ein Pflegekind dazugesellt - hatte ich für den Umgang mit Kindern vor allem die Verhaltensmuster im Hinterkopf, die ich als Kind von meinem Vater lernte. Für viele Menschen ist er eine imponierende Persönlichkeit. Von ihm kriegte ich oft zu hören "Was man will, das kann man auch" - '(Aber du willst ja nicht [was ich will])'! Und das heißt tödliche Feindschaft und Krieg.

Als 18jähriger brachte ich mir autogenes Training bei und mich perfekt zu programmieren. Als 40jähriger, vor sieben Jahren, merkte ich, daß ich meine Programmierung, irgendwo im Hinterkopf, für meinen wahren Willen gehalten habe, daß ich den Jans, den Säugling, das Kind, den



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Jugendlichen habe vergessen wollen, zuprogrammiert habe, sitzengelassen habe, wo immer es damals für mich lebensnotwendig erschien.

Heute bin ich mir sicher, daß ich zu jeder Zeit und in jeder Situation mein Bestes für mich getan habe, wie kraus und anstrengend sich die damals gelernten Überlebenstechniken später und bis heute auch auswirken. Und ich bin gewiß, daß wohl die Vergangenheit festgelegt ist, das aber in jeder neuen Sekunde jetzt ich frei bin für neue Entscheidungen für die Zukunft, die sich hin auf zahllose Zukünfte verzweigt.

Mit viel liebevoller Unterstützung, die ich mir von vielen Menschen holte, konnte ich mich in die Keller der Erinnerung trauen. Manche waren hell und bunt, manche kalt und leer, in manchen saß das Kind ohnmächtig in der Situation, wo ich damals den Riegel vorgeschoben habe. Wieviel Energie hatte ich in immer sicherere Ketten und Schlösser investiert. Jetzt kann ich die Spannung von den Schmerzen von damals herausweinen, genauso das Zittern, das Toben, das Lachen herauslassen. Dabei ergibt sich, spontan, daß ich die alten Informationen unter neuem Blickwinkel auswerte.

Und das Kind, der Keller, die Ketten und Riegel? Ich muß sie nicht mehr von mir abtrennen. Sie sind ICH. Alle Energie, die ich jahrzehntelang aufgewendet habe, um mich an dieser Stelle zu unterdrücken, totzustellen, ist wieder freigeworden. Die Spannung aus der alten Situation ist abgeflossen. Sie hatte mich gehindert, alle neuen und nur ähnlichen Situationen wirklich neu und real zu erleben. Wo Panzer war, ist jetzt Leben. Dieses Leben mag ich heute und hier bestehen, nicht in der Zukunft, eingezäunt mit Damals.

Ich kann die Panzer meiner Kinder anschauen, wo ich ihnen Schmerz zugefügt habe, und ich kann mich einlassen auf ihre Offenheit, die sie mir vorleben. Das macht mir nur noch gelegentlich Angst. Und ich kann stehen zu Schmerz, Angst, Wut, Lächerlichkeit, die ich auch heute noch gelegentlich um mich verbreite, denn ich habe noch viele unerforschte Keller; Keller, denen ich durch die Freundschaft meiner Kinder immer näher komme. Und ich merke, wie sich in mir und um mich mehr und mehr Klarheit und Liebe ausbreitet.

Noch eines. Mein Vater imponiert mir nicht mehr, denn ich kann jetzt seine Liebe fühlen. Ich bin geborgen in der Liebe und Fürsorge auch meiner Eltern, aller Menschen, eben: Freundschaft mit Kindern.


12.6. Doris (Gegen die Gegenunterdrückung)

von Doris Lange

"Alle Kraft ist bei Dir"
"Du tust jederzeit Dein Bestes für Dich!"
"Du bist der Mittelpunkt des Universums!"


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Dies waren die ersten Sätze, die sich bei FREUNDSCHAFT MIT KINDERN in mir festhakten. Als geschulter Kopfmensch begann ich sofort damit, diese Aussagen in ihrer Konsequenz zu durchdenken, anstatt die mit ihnen verbundene Haltung in mir wirken zu lassen.

Ich war entsetzt.

Gerade hatte ich mich mit Hilfe der Frauenbewegung davon überzeugt, daß ich zur größten aller unterdrückten Klassen gehöre, daß es Zeit sei, die Männer zu bekämpfen. Und dann treffe ich Menschen, die mir vermitteln, ich sei selbst "schuld", wenn ich mich unterdrücken ließe. Ich fühlte mich in meinem Elend "Frau zu sein" verkannt und im Stich gelassen. Es hat viele Monate gedauert, bis ich endlich den Unterschied zwischen FREUNDSCHAFT MIT KINDERN und mir geläufigen Ideologien begriff.

Es ging nicht mehr darum, Schuld zu verteilen, einen Bösen zu finden, den man bekämpft. Es geht um mich und darum, meine eigene Kraft zu spüren. Dieses Gefühl war mir aber so gründlich aberzogen worden, daß ich diese Fähigkeit erst mühsam wieder erinnern mußte. Ich hatte mich nur noch gespürt, wenn ich mich in Aggression gegen meine Unterdrücker ergehen konnte.

Nach und nach wurde mir klar, daß mein Kampf gegen Unterdrückung davon geprägt war, daß ich die Definitionen meiner Unterdrücker übernommen hatte. Ich regte mich über jeden Mann auf, der Frauen nicht als gleichwertig sah, weil ich mich nicht gleichwertig fühlte. Die Männer sollten sich zurückhalten, damit ich mich mit meinen Komplexen etablieren konnte. Sie sollten Rücksicht auf meine Verletzlichkeit nehmen. Auf die Idee, daß sie selbst als Erzogene Verletzte sein könnten, kam ich nicht. Auf die Idee, daß ich bei mir anfangen müßte, bevor ich Strukturen angehen könnte, kam ich nur in sehr begrenztem Umfang.

Als ich die (juristische) Referendarzeit begann, sah ich wieder einen Schwarm potentieller Unterdrücker auf mich zukommen: Die Ausbilder. Und ich hatte Angst bis zum Stehkragen. Doch ich hatte mich inzwischen verändert. Beinah unmerklich hatte sich der Satz "Alle Kraft ist bei Dir" bei MIR festgesetzt.

Ich machte zaghaft den Versuch, meinen Ausbildern als Mensch mit eigener Persönlichkeit gegenüberzutreten, mich nicht von ihrer Zensurenmacht einschüchtern zu lassen. Es geschah Erstaunliches. Das Ansinnen, die gesamte Referendar- Arbeitsgemeinwie eine Schulklasse zu behandeln, blieb gleich dem ersten Ausbilder im Halse stecken. Zunächst war er erstaunt, das seine Allmacht nicht ohne weiteres anerkannt wurde - und das nur von einer von neunzehn. Doch er gewöhnte sich offensichtlich gerne und bald um. Auch er konnte sich jetzt wie ein Mensch benehmen und nicht wie eine Wissensvermittlungsmaschine.

Ich saß still auf meinem Stuhl und bemerkte seine Veränderung mit Erstaunen. Und dann war mir schlagartig und fühlbar klar, was sich ereignet hatte. Auch er hatte Angst vor Ohnmacht und nicht anerkannt zu sein. Um dieses alte Gefühl nicht wieder erleben zu müssen, hatte er sich eine Barrikade von "Lehrermacht" aufgebaut. Er hatte gut für sich gesorgt, sein Bestes getan. Doch zwang ihn diese "Lehrermacht", immer perfekt und emotionslos zu funktionieren - welche


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Anstrengung. Ich hatte das "Spiel" durchbrochen. Ich hatte vermittelt, daß ich zwar von ihm was lernen will, daß ich aber dennoch als Mensch gesehen werden will und bereit bin, ihn als solchen anzunehmen. Er hat diese wortlose Botschaft verstanden.

Das, was da in kleinem Rahmen geschehen ist, läßt sich auf jede Art von Unterdrückung anwenden und daher generalisieren für persönliche Beziehungen zwischen Unterdrückten und Unterdrückern. Solange der Unterdrückte erwartet, daß der Unterdrücker seine Definition ändert und seine Macht mehr oder weniger freiwillig aufgibt, wird sich wenig ändern. Gibt aber der Unterdrückte die Definition auf - und diese Kraft ist in jedem -, wird die persönliche Unterdrückung seines Gegenübers ihn nicht mehr erreichen. Auf dieser Grundlage der uneingeschränkten Selbstachtung und des effektiven Umgangs mit sich wird es einfacher und effektiver, gegen institutionelle und politisch verfestigte Unterdrückungsfarmen anzugehen.
Jeder ist der Mittelpunkt des Universums
Jeder tut jederzeit sein Bestes für sich
Alle Kraft Ist bei Dir


12.7. Ulla (Von Kindern und Erwachsenen lernen)

von Ursula Schulte

Mit der Konzeption FREUNDSCHAFT MIT KINDERN wurde ich auf einer Informationsveranstaltung des FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Förderkreis e.V. 1980 vertraut. Einige Thesen, die diese Menschen dort vertraten, waren mir sofort plausibel, andere aber konnte ich noch nicht akzeptieren, z. B., daß ein Kind nicht erziehungsbedürftig sei. Jahrelang hatte ich schließlich gelernt, daß der Mensch erziehungsbedürftig sei (sowohl im Pädagogik-Leistungskurs während der Schulzeit als auch während des Studiums an der Pädagogischen Hochschule), und nun waren da Leute, die das Gegenteil behaupteten.

In mir begann ein langer Prozeß - Kinder als selbstverantwortliche Menschen anzusehen und ihnen ihre Selbstbestimmung zuzugestehen, war schon etwas neu. Zunächst beobachtete ich Kinder, die auf der Straße spielten. Ich wollte sehen, ob sie beim Spielen wirklich für sich selbstverantwortlich sorgen konnten. So beobachtete ich zum Beispiel Sarah, die zu dem Zeitpunkt 3 Jahre alt war. Sie fuhr mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig und bremste kurz vor der Mauer, um umzudrehen. Ich sah also, daß sie die Gefahr einzuschätzen wußte und fähig war, angemessen zu reagieren.

Ein paar Wachen später sah ich ihr beim Rollschuhlaufen zu. Ich hatte zunächst Angst, daß sie plötzlich bei ihrem schnellen Tempo auf den Radweg geraten könnte, doch nach kurzer Zeit merkte ich, daß sie ihre Aktivitäten sehr zu steuern wußte, denn Sarah achtete immer genau darauf, das sie nicht auf den Radweg kam. Außerdem paßte sie sogar noch auf, daß sie nicht anderen Kindern in den Weg kam, die gerade einen Rollschuhwettbewerb veranstalteten. Sarah konnte also gut für sich sorgen.


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Ich habe noch viele solcher oder ähnlicher Beobachtungen machen können, und daher konnte ich dann schließlich an die Selbstverantwortlichkeit der Kinder "glauben". Das hatte zur Folge, daß ich, wenn ich mit Kindern zusammen war, mich nicht mehr für sie, sondern vor ihnen und ihren Menschenrechten verantwortlich fühlte. Ich brauchte nicht mehr für sie zu sorgen, denn das taten sie schon selber, und wenn jemand was von mir wollte, fragte er mich eben. Es war schön. Mich belastete von nun an nicht mehr dieses schreckliche Verantwortungsbewußtsein, und ich hatte auch nicht mehr soviel Angst, daß etwas passieren könnte.

In meiner Beziehung zu Kindern war ich ab da frei. Ich konnte ICH sein. Und somit konnte ich viele schöne Sachen zusammen mit Kindern erleben. Unterstützt wurde ich in meiner neuen Lebensart durch Menschen, die diese Lebensart schon länger lebten, auf sogenannten "Intensivtreffen", und auch durch das Lesen von Büchern, z.B. von E.v.Braunmühl, R.Farson, J.Holt, C.Rogers, H.v.Schoenebeck, usw., wie auch durch meine eigenen positiven Erfahrungen in dieser neuen Beziehung zu Kindern. Gestärkt wurde meine neue Art der Kommunikation mit jungen Menschen auch durch mein Praktikum im Sommer 1980, das ich in der Arbeitsgruppe Spielplatzbetreuung beim Kinderschutzbund Münster verrichtete. Hier erlebte ich viele schöne Sachen mit Kindern. Aufgrund meiner veränderten Einstellung konnte ich das Zusammensein mit ihnen genießen, ihre Souveränität und Spontaneität. Ich konnte bei ihnen ICH sein, sie akzeptierten mich in meinem SOSEIN. Diese schöne Zeit mit den Kindern, wo ich erlebte, daß sie gut wußten, was für sie gut war, ermutigte mich, noch mehr für FREUNDSCHAFT MIT KINDERN einzutreten. Denn diese "Botschaft", die ich verkündete, konnte ich erleben; ich konnte erfahren, wie toll es ist, mit Kindern auf so eine Art und Weise zusammenzuleben.

Dies alles hätte aber sicherlich nicht stattfinden können, wenn ich nicht auch begonnen hätte, Freundschaft mit mir selbst zu schließen, Freundschaft mit dem Kind in mir. In Intensivgruppen und Wochenendseminaren, die vom Förderkreis veranstaltet wurden, erfuhr Ich dabei viel Unterstützung durch andere Erwachsene: Ich machte die für mich damals völlig neue Erfahrung, daß mich Menschen so akzeptierten, wie ich war. Ich durfte ICH sein, und ich konnte meine Gefühle zulassen. Viele Menschen mochten mich. Das half mir dabei, stückweise mich selbst immer mehr zu akzeptieren und zu mögen. Die Erfahrungen, die ich auf solchen Wochenenden oder überhaupt in solchen Gruppen machte, waren für mich schön und wichtig und geben mir viel Kraft. Vor allem war es für mich schön zu wissen, daß es eine ganze Menge Menschen gibt, die mich so mögen, wie ich bin, und bei denen ich mir Unterstützung holen kann. Außerdem wurde es in dem Augenblick, wo ich begann, mich selbst zu mögen, leichter für mich, andere Menschen in ihrem SOSEIN zu akzeptieren. Ich habe erkannt, daß ich wichtig und schön bin, und daß dies für jeden gilt, daß jeder auf seine persönliche Weise wichtig und schön ist. Heute brauche ich mich nicht mehr ewig anzuzweifeln und meine Fähigkeiten in Frage zu stellen, da ich weiß, daß ich so gut bin, wie ich nun mal bin, und daß alles, was ich mache, für mich sinnvoll ist.

Ich habe begonnen, mir selbst und meinen Fähigkeiten zu vertrauen und sehe auch immer wieder, daß ich es immer irgendwie schaffe, mit meinen Problemen zurechtzukommen. Das nimmt mir die Angst vor vielen Dingen, denn ich habe heute das Gefühl "Ich werde es schon schaffen". Ich muß nichts. Ich bin frei. Diese Freiheit, die daraus erwächst, daß ich mich innerlich von den äußerlichen Zwängen befreit habe, setzt ungeheure Kräfte frei.


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13. FREUNDSCHAFT MIT KINDERN wie macht man das?


Nun, jeder wird da seinen eigenen Weg gehen. Aber natürlich kann man sich umschauen und andere fragen, wie sie es machen. Wir haben Ihnen 10 "Regeln" aufgeschrieben, die wir aus unserer eigenen Erfahrung mit FREUNDSCHAFT MIT KINDERN gewonnen haben. Wir bieten sie Ihnen an - suchen Sie aus, was Sie für sich gebrauchen können.

1. Anfangen
Wir Erwachsene haben uns entschlossen, FREUNDSCHAFT MIT KINDERN zu praktizieren. Also fangen wir damit an. Ob und wie die Kinder mitmachen, ist dann schon die Sache der Kinder. Auch wenn sie reserviert bleiben sollten - wir fangen an, weil FREUNDSCHAFT MIT KINDERN für UNS die Form der Beziehung ist, die WIR verwirklichen. Denn wir haben erkannt, daß in FREUNDSCHAFT MIT KINDERN unsere eigene Würde geachtet wird, daß wir uns selbst achten können. Und dies war uns in der traditionellen Erziehungs-Beziehung zu Kindern verloren gegangen. Wir beginnen mit FREUNDSCHAFT MIT KINDERN, weil dies GUT FÜR UNS ist.

2. Achten
Wir achten die Kinder. Das heißt, wir respektieren ihre Selbstauffassung. Wie sie sich selbst verstehen und was sie denken und wie sie urteilen - dies respektieren wir. Auch, wenn wir nicht mit dem einverstanden sind und oft andere Meinung haben - wir achten ihre Position. Sogar, wenn wir Kinder an der Ausführung von ihren Plänen hindern, achten wir ihre Person. Unsere Angst und unsere andere Beurteilung ihrer Vorhaben zwingen uns dann, ihnen in den Arm zu fallen - aber wir mißachten sie deswegen nicht.

3. Hören
Wir hören auf das, was in den Kindern vor sich geht. Wie sie sich fühlen. Was sie sagen wollen. Wie es ihnen geht. Wo sie sich mißverstanden fühlen. Nur wenn wir richtig hören - also: tatsächlich den anderen Menschen vor uns hören und nicht unsere Meinung über ihn -, haben wir einen realistischen Kontakt zu Kindern. Je mehr wir hören, desto mehr lernen wir die Realität zu verstehen.

4. Mitteilen
Wir teilen den Kindern mit, wie uns zumute ist. Offen und ehrlich - ohne Trick und doppelten Boden. Wir stehen zu uns und unseren Stimmungen und Gefühlen, auch Kindern gegenüber. Denn wissen sie, wo sie dran sind und können sich orientieren. Wir zeigen ihnen unsere Realität - so, wie wir lernen, ihre Realität zu verstehen.

5. Standhalten
Wir treten den Kindern als Person entgegen, wir halten ihnen stand. Wir verstecken uns nicht in der Erwachsenenrolle oder der Erzieherrolle. Wir trauen uns und den Kindern, unseren und ihren


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sozialen Fähigkeiten. Wir können uns den Kindern als Person anbieten. Wir haben nicht die Angst, in unserer Würde und unserem Selbstverständnis von ihnen angegriffen zu werden, wenn wir sagen, wer wir sind. Wir vertrauen uns den Kindern an - als selbstverständliche Realität. Und dabei lassen wir uns nicht unterkriegen oder ausnutzen: unsere Würde steht ihrer gleichberechtigt gegenüber, und wir können uns ohne schlechtes Gewissen zur Wehr setzen, wenn wir dies tun müssen.

6. Unterstützen
Wir unterstützen die Kinder. So, wie sie sich das von uns erbitten. Nicht so, wie wir es ihnen auferlegen wollen. Wenn wir Kindern zuhören gelernt haben, wissen wir, wo und wie wir unterstützen können. Sollten wir uns überfordert fühlen, gestehen wir uns dies ein, unterstützen nicht und sagen den Kindern dies ehrlich. Wir können auch gut für uns selbst sorgen, und die Kinder erfahren uns dann als Grenze: dies ist Realität. Unsere Unterstützung ist ein offenes personales Geschehen - weder ein Trick, um die Kinder zu den eigenen Zielen zu bringen noch ein achtungsloses Aufopfern unserer selbst.

7. Dasein
Wir sind den Kindern da. Sie können sich auf uns verlassen. Wir erziehen Kinder nicht wir sind als Freunde für sie da. Wir sind aktiv, anteilnehmend und achtend da. Mit all der Energie, die wir gerade in die Beziehung bringen können. Als die Person, die wir sind: Dies ist das Beste, was wir den Kindern bieten können.

8. Verantworten
Wir verantworten uns VOR uns selbst und VOR den Kindern. Diese Verantwortung ist an der eigenen Selbstachtung und der Würde des Kindes orientiert. Nicht an fremden Normen - wir haben diese schädliche Tradition überwunden. Wir sind nicht FÜR die Kinder verantwortlich! Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich. Ich FÜR dich - dies ist Herrschaft, und dies haben wir ein für alle Mal hinter uns gelassen. Wir treten von Person zu Person in Beziehung, gleichberechtigt und gleichwertig auch in der Verantwortungsfrage. Und in unserer personalen Begegnung verantworten wir uns voreinander.

9. Vertrauen
Wir vertrauen uns selbst. Als Grundhaltung. Und den Kindern. Als Grundhaltung. Wir wissen, daß wir mit der neuen Beziehung auf sicherem Boden stehen. Wir wissen um den Zugewinn an Leben, den FREUNE SCHAFT MIT KINDERN ermöglicht. Das Vertrauen in uns selbst, in die Kinder und in die neue Art des Miteinenders kommt tief aus uns und bindet uns tief.

10. Lieben
Wir lieben unsere Kinder - aber mit Distanz. Wir verschlingen sie nicht. Wir lassen sie sich von unserer Liebe wärmen, und hierbei wird uns wohl. Wir brauchen sie nicht für uns, doch wir können uns auch an ihrer Liebe wärmen. Und wir spielen unsere Liebe nicht gegen sie aus. Unsere Liebe ist keine erzieherische Liebe - sie gründet sich auf unsere Selbstliebe, auf Achtung, Anteilnahme und Distanz. Sie schwingt zwischen uns als unsere neue Realität.









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