Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.12 Selbst Verantwortung

4 Wissen und Wahrheit?


Die Wirklichkeit ist das, was ich auf mich und in mir als wirkend, als Alltagsbewußtsein, erlebe, wahrnehme und wahnnehme,
meine Wahrheit, Folge meiner Wahr-Gebung. Die erlebe ich als ununterbrochenen, nie unterbrechbaren Strom von Situationen, mit denen ich denkend, fühlend, handelnd umgehe, verwoben bin. Ich kann nicht nicht kommunizieren. Selbst, wenn ich in selbstvergessener Meditation unter diesen Strom tauche, dann nur in eine andere Wirklichkeit meines anderen Bewußtseins, auch in Narkose oder sogar im Koma [1]. Ich selbst antworte ununterbrechbar. Wie auch immer ich diesen Strom verarbeite zu Fühlen, Denken, Handeln, auf welcher Ebene von Bewußtsein das auch immer sein mag, welchem Aspekt von "Ich" auch immer ich oder ein Beobachter das zuschreiben mag, ich selbst entscheide, wie ich antworte, wahrgebe.

Wahrgeben heißt, ich gebe mir aus meiner für mich erkennbaren Welt aus den zahllosen nur die Daten ins Bewusstsein, die für mich zu meinen relevanten Informationen
zugelassen werden und schließlich zu meinem Wissen, zu meiner Wahrheit werden. Um meines Überlebens willen habe ich schon als Säugling begierig die Codes meiner Zentral-Sozialpartner aufgesaugt, wie es der klugen Konstruktion des menschlichen Gehirns, besonders in den ersten drei Lebensjahren, entspricht. Ich habe mit meiner Weise die Welt zu erleben mir die Landkarten über diese Welt gezeichnet und die Landkarten dieser Landkarten.

Das alles
weiß ich, denn das sind Ergebnisse von psychologischer und biologischer Forschung. Zusätzlich glaube ich, dass sich jedes Wesen in seine Einkörperung wählt, dass die Eltern und die Gesellschaft nicht mir zugestoßen sind. Nie hat irgendjemand in meinen Kopf gefasst und mir zwangsweise eine Information eingetrichtert - das ist zwar der traditionelle Traum aller Erzieher, aber das funktioniert so nicht. Meine Gene sind nur die Blaupausen - ob sie aus dem Schrank geholt und aktiviert werden, das obliegt meiner Epigenetik [2]. Ich habe das alles aktiv wahrgegeben, nicht passiv wahrgenommen. Und, ich ahne mich dabei als bewegt von Kräften, für die ich vielleicht nur ein Staubkorn bin.

Diesen selbst erzeugten Strom von Verarbeiten, Entscheiden, Antworten auf den Strom meiner Wahrheiten über den Strom der Situationen des Lebens, nur dies allein, nenne ich hier Selbstverantwortung (so wie vor den ständig brandenden Wellen des Ozeans der ständig veränderte, aber feste und lückenlose Strand des Festlands besteht). Ich selbst antworte ununterbrechbar handelnd, sei es durch Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Entscheiden oder Tun, Dulden, Unterlassen
[3].

So auf meine Wahrheit schauend kann ich dann auch gelassen auf all meine Verwirrungen, auf Verdrängtes, Verleugnetes, Ererbtes zumindest ahnend schauen. Wahrheit kann wohl nichts gänzlich Relatives sein. Ich will glauben, dass sie eng verbunden ist mit der Grundkraft des Universums, mit Liebe, oder in einem Einstein-Wort, das sie in Princeton in Stein gemeißelt haben: "Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist Er nicht". Diese Grundkraft Liebe entspricht wohl dem, was Lao Dzi das Tao nennt: "Aus dem Tao entsteht Eins", Liebe. Daraus entstehen die Zwei, Liebe als Ausdehnendes, z.B. Neugier, Lust, sowie die Abwesenheit von Liebe, Nicht-Liebe als Zusammenziehendes, z.B. Angst. Aus den Zweien entsteht Drei, das gemeinsame Spiel der Zwei. Aus Drei entstehen die 10.000 Dinge, die Erscheinung unserer Welt.

So antwortend
kann ich nicht anders handeln als richtig. Selbst wenn ich bewusst Schlechtes tue, dann aus meinen zu der Zeit guten Gründen. "Jeder tut zu jederzeit sein Bestes für sich - unter Berücksichtigung der Informationen, die er hat, und der Regeln, die er zu deren Auswertung kennt. Und er verdient nicht, deswegen von irgendwem zurückgestoßen oder beschuldigt zu werden. Von niemand, auch nicht von sich selbst!" [4]. Dieses "Beste" ist nicht als Wertung zu verstehen, aus moralischen, sozialen, gesundheitlichen oder welchen Gesichtspunkten auch immer. Es ist einfach eine biologisch vielleicht erklärbare Grundintention jedes lebenden Organismus, das Driften der Evolution. Selbst wenn ich bewußt Schlechtes tue, gegen mich oder andere, dann aus meinen zu der Zeit guten und wohl meist unbewußten Gründen.

Bedeutet die Entscheidung für die Idee, in Selbstverantwortung zu leben, mehr Freiheit? Durch die Entscheidung steigert sich die Fähigkeit, achtsam zu sein, und schließlich erweitert sich das Feld der Aufmerksamkeit zum Gewahrsein, und dieses beginnt, das grundlegende Nicht-Wissen, mein das Unwissen II. Ordnung zu durchdringen. Aus diesem Gewahrsein resultiert eine weitere Einsicht in das Wesen der Erfahrung, was wiederum das Bedürfnis und die Fähigkeit stärkt, den ganzen Zyklus bindender Gewohnheitsmuster aufzulösen, der auf Nicht-Wissen und egozentrisch-absichtsvollern Handeln basiert. Der unaufmerksame, unbewusste Geisteszustand ist dumpf - in einen dicken Kokon aus abschweifenden Gedanken, Vorurteilen und solipsistischen Grübeleien eingehüllt. Wenn die Achtsamkeit zunimmt, wächst auch die Fähigkeit, die Elemente der Erfahrung auszukosten. Die Buddhisten lehren, in der Achtsamkeit/Gewahrseins-Meditation geht es nicht darum, den Geist von der phänomenalen Welt abzulösen; vielmehr soll sie den Geist befähigen, ganz in der Welt präsent zu sein. Das Ziel liegt nicht darin, Handeln zu vermeiden, sondern ganz in den eigenen Handlungen präsent zu sein, so dass das Verhalten immer verantwortlicher und bewusster wird.

In der modernen Gesellschaft bedeutet Freiheit meist, nach Belieben tun und lassen zu können, was man möchte. Die Sicht auf das Entstehen von Handeln in gegenseitiger Abhängigkeit ist jedoch etwas völlig anderes. (Ein zeitgenössischer buddhistischer Lehrer veröffentlichte sogar ein Buch mit dem Titel "The Myth of Freedom.") Aus dem Ichgefühl heraus zu tun, was man möchte (absichtsvolles Tun), gilt in diesem System als das unfreieste Handeln. Denn es ist durch Zyklen der Konditionierung an die Vergangenheit gekettet und führt zu weiterer Versklavung in der Zukunft durch Gewohnheitsmuster. Zunehmend freier zu werden bedeutet, der Bedingungen und besonderen Möglichkeiten einer aktuellen Situation gewahr zu sein und zu uneingeschränktem Handeln fähig zu sein - also nicht durch Anhaften und egoistische Willensakte bedingt zu sein. Diese Offenheit und Sensitivität umfasst nicht nur die unmittelbare Sphäre der eigenen Wahrnehmung. Sie befähigen einen auch, andere zu respektieren und mitfühlende Einsicht in ihre Konflikte zu entwickeln. Die Ahnung vieler Übender, dass solche Offenheit und Authentizität im menschlichen Leben möglich ist, erklärt die Vitalität der Achtsamkeit/Gewahrseins-Tradition. Außerdem veranschaulicht sie, dass eine hochentwickelte theoretische Tradition ganz natürlich mit alltäglichen menschlichen Anliegen verwoben werden kann. Und ganz Ähnliches gibt unsere, ganz westliche Idee, in Selbstverantwortung zu leben.

Ein Mensch, der sich im Wald verirrt, macht nichts falsch, er hat lediglich seinen Weg verloren. Aber er muß sich deswegen keine Vorwürfe machen. Der Verirrte im Wald, der sich selbst beschuldigt, sich Vorwürfe macht, der nur noch verwirrter ist und einem Zusammenbruch nahe, verliert seine klare Denkfähigkeit und die Ruhe, die der Instinkt braucht, um den rechten Weg zu finden. Und auch weiß ich sehr wohl aus meiner langen Erfahrung, daß wenn ich nach einer bestimmten Straße suche und 10 verschiedene Leute nach dem Weg frage, ich mindestens 5 verschiedene Antworten bekomme und immer noch nicht weiß, was die richtige Auskunft ist.

"Handeln enthält Magie, Anmut und Kraft". So tue ich zu jeder Zeit mein Bestes. Es geht nicht anders, dieser Strom ist ununterbrechbar! Das Leben lebt sich und mich mittendrin und es widerspricht dem "Gesetz" da, wo das nicht dem Leben dient, sondern sich unter dem Schein falscher Versprechen von "Gelingen" zum Herrn des Lebens macht, um gerade so eine lebensabträgliche Wirkung zu entfalten. So, in meiner inneren Welt jederzeit zu 100 % selbstverantwortlich mein Bestes tuend, mag ich in der äußeren Welt durchaus völlig unverantwortlich erscheinen. - Doch, will ich aus der Sicht der Mitmenschen Recht haben oder will ich aus meiner Sicht frei sein?

Mit jeder Antwort erschaffe ich mir neue Erfahrung, bewußte oder (meistens) unbewußte
[5]. Und so werde ich zum Schöpfer meines Universums mit mir im Mittelpunkt, meiner persönlichen Realität, mit der ich die Illusion der Abgetrenntheit aus der Ganzheit des Seins erzeuge. Illusion kann aus sich selbst nicht existieren. Ohne das sie erzeugende und erhaltende Ich-Bewußtsein löst sie sich sofort auf in nichts. Ohne diese Illusion, z.B. der Macher meines Universums zu sein, lebe ich einfach - das Leben lebt sich selbst. Und mit dem Paradoxon, mein Schöpfer und dennoch nicht der Macher zu sein, kann ich meistens gut leben.

Im Zusammenhang dieses Textes interessiert mich deshalb nicht so sehr,
warum oder was ich denke, zu was ich mich entscheide, schon gar nicht, ob ich das für richtig oder falsch halten sollte, weil das in diesem Strom schnell wechseln könnte. Ich finde es sehr viel spannender, wie ich denke, wie ich zu Entscheidungen komme. Woher kommen die Entscheidungen? Wohin führen sie mich? Wie kann ich real und virtual, Wahrheit und Wahnheit unterscheiden? Wie kann ich die Gedankenfehler in meinen Wahnnehmungen aufdecken, mein Leiden beenden und meine Selbstverantwortung klären? Wo fing meine Selbstverantwortung an?

Bereits vorgeburtlich sind die Menschen von Natur aus zur Selbstverantwortung ausgebildet. Mit Hormonen, biochemischen Möglichkeiten und vielen anderen vom embryonalen Organismus selbst gesteuerten Prozessen regeln die Embryos ihren Nahrungs- und Sauerstoffbedarf, ihren Schlaf, ihre gesamte Entwicklung. Immer wieder entscheiden sie selbst, unendlich viele große und kleine Dinge in ihrem beginnenden Leben. Wann soll zum Beispiel die erste Bewegung erfolgen, mit dem Finger, der Hand, dem Arm, dem Bein, dem Kopf, dem Rumpf, dem Körper.

Und schließlich sind sie es, die ihre Geburt einleiten, nicht die Mutter: Nach etwa neun Monaten der Entwicklung spürt jeder Fötus selbst, wann der rechte Zeitpunkt für ihn gekommen ist. Und das Ungeborene gibt den entscheidenden Hormonausstoß in den Körper der Mutter, um damit die Wehentätigkeit auszulösen, die es unterstützen soll, wenn es
sich durch den Geburtskanal in die Unabhängigkeit stemmt.

Alle Kinder kommen als hochwertig ausgebildete und trainierte Selbstverantworter auf die Welt und rufen den Erwachsenen zu:
"Ich bin für mich selbst verantwortlich! Das ist jeder Mensch, vom Anfang bis zum Tod! Ich habe es gut gelernt, für mich verantwortlich zu sein, es gehört zu meinem Wesen, zum menschlichen Wesen! Erkennt und achtet es!" Können wir, als von Erzogenen erzogene, das hören?

Diese Selbstverantwortung hat also lange vor meiner Geburt eingesetzt und sie wird erst kurz nach dem Tod meines Körpers enden. Wohl können Unterdrücker oder wohlmeinende Erzieher (nur zu meinem Besten natürlich) mit ihren Wahnnehmungen mich glauben machen, mein Strom von Verarbeiten, Entscheiden, Antworten sei
scheinbar nicht in Ordnung und ich könne, ja, müsse an dessen Stelle ihren setzen.

Wohl kann mich solcher Glaube krank und irre machen, wenn ich daraus meine eigenen Wahnnehmungen erzeuge und sie für real halte. Aber ich kann mich neu entscheiden und bei geeigneter Unterstützung durch mich allein oder durch andere zu jeder Zeit in die erfahrbare und erlebbare Gewißheit dieses nie unterbrechbaren Stroms meiner Selbstverantwortung zurückfinden, meine Wahrheit neu erkennen. Ich kann mich zu jeder Zeit neu entscheiden und so den Rahmen meiner
zugelassenen Informationen erweitern.

Ich könnte. Will ich das denn überhaupt? Will ich
meine Wahrheit wissen, meine Barrieren von Wahnheiten benennen? In welchen Lebensbereichen will ich das, in welchen nicht? Was halte ich in meinem Leben, in der Gesellschaft in der ich lebe, für unveränderlich, für als zu akzeptierendes, für gottgegeben? Kann ich beweisen, dass das wahr ist? Wie reagiere ich, wenn ich das glaube? Was, fürchte ich, könnte schlimmstenfalls passieren, wenn ich von diesem Glauben abginge? Gibt es einen streßfreien, einen friedfertigen Grund, an diesem Glauben festzuhalten? Wer wäre ich, wie würde ich leben ohne diesen Glauben? Wie könnte eine gedankliche Umkehrung dieses Glaubenssatzes lauten? Fühlt sich diese Umkehrung ebenso wahr an oder womöglich wahrer?

So wichtig dieses Verantwortung-Übernehmen auch sein mag, es ist doch nur die eine Seite der Gleichung. Wer sein Leben aktiv selbst in die Hand nehmen will, wird auch lernen, wann er loslassen und sich fügen will, wann er sich dem Strom überlassen will, ohne sich zu wehren
und auch das ist ein Kern aktiven Antwortens. Loslassen oder In-die-Hand-Nehmen - das ist natürlich auch wieder nur eine andere Formulierung der Frage von Sein oder Tun, jener uralten Polarität von Yin und Yang, die tausend Gestalten annimmt und nie auszuschöpfen ist. Nicht daß Yin oder Yang richtiger wäre oder Sein besser als Tun - man muß vielmehr die Balance finden, die natürliche Harmonie von Yin und Yang, die von den alten Chinesen Tao genannt wurde. Tun und Sein, beherrschen und zulassen, Widerstand und Öffnung, Kampf und Ergebung, wollen und annehmen - hier den Ausgleich, die Balance zu finden, könnte eine interessante Aufgabe sein. Wir kommen immer wieder auf diese Frage der Balance zurück, jedesmal unter einem etwas anderen Blickwinkel.

In diesem Text hier sehe ich auf mich
in dieser Welt. Wer ist dieses Selbst, dieses Ich und wie verbindet es sich mit dieser Welt - oder setzt sich damit auseinander? Aber auch der Blickwinkel auf diese Welt und wie sie auf dieses Selbst/Ich wirkt, ist genauso von Belang.

Zeev Sternhell schrieb: Der Krieg gegen die Werte der Aufklärung wird in unseren Tagen mit derselben Entschlossenheit geführt wie in den beiden vergangenen Jahrhunderten. Im politischen Denken der mächtigen und hartnäckigen Antiaufklärer hat das Individuum nur in Bezug auf die Gemeinschaft Sinn; es existiert nur im konkret Besonderen, nicht im abstrakt Allgemeinen. Folglich muss im Vordergrund stehen, was Menschen unterscheidet und voneinander trennt: das, was ihre Identität ausmacht und nicht nur auf Vernunft zurückzuführen ist. Die Enzyklopädie Diderots und d'Alemberts definierte den Begriff der Nation im Sinne der Aufklärung als "eine große Anzahl von Menschen, die ein bestimmtes umgrenztes Territorium bewohnen und derselben Regierung untertan sind". Kein Wort von Geschichte, Kultur, Sprache und Religion. So also, all seiner Eigentümlichkeiten entledigt, ist der Staatsbürger (citoyen) in die Welt gekommen. Auf dieser Grundlage befreite die Französische Revolution die Juden und die schwarzen Sklaven. Zum ersten Mal in der Geschichte waren alle Bewohner eines Landes derselben Regierung untertan und die Bürger frei und gleich vor dem Gesetz. Dieser Begriff der Nation, um es noch einmal zu verdeutlichen, rückte keine soziologische oder kulturelle Bewandtnis ins Zentrum, sondern war Ausdruck des Bemühens der aufklärerischen Denker, die Widerstände der Geschichte zu überwinden, das Individuum von den bestimmenden Kräften seiner Zeit, vor allem der Religion, zu befreien und seine Autonomie zu betonen.

Die amerikanische Rechte, die religiösnationalistische und annexionistische Rechte in Israel sowie die Islamisten auf der ganzen Welt haben Teil an einem Denken, das eine andere Moderne will: eine Moderne, die die Nation als den Idealtypus einer gewachsenen und Gott zugewandten Gemeinschaft ansieht, deren Triebfedern unabhängig sind vom individuellen Willen und von der Vernunft, da die Menschen ein Bedürfnis nach dem Heiligen haben und ein Bedürfnis danach, zu gehorchen. Dies setzt offenkundig eine Zukunftsvision voraus, die der der Aufklärung diametral entgegengesetzt ist: Sich ein neues Fundament geben zu wollen, kann nur eine Todsünde sein und ins Verderben führen. Die Neokonservativen - auch die französischen - haben die Französische Revolution immer für ein Werk des Teufels gehalten und ihr die glorreiche englische Revolution von 1688/1689 sowie die Geburt der Vereinigten Staaten gegenübergestellt. Dennoch waren diese drei Revolutionen Gründungsereignisse, die Regierungsformen an die Macht brachten, wie es sie nie zuvor gegeben hatte; der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Deklaration der Menschenrechte liegen dieselben Prinzipien zugrunde.
[6]

Wenn ich mein Bewusstsein von Selbst-Verantwortung wirklich ernst nehmen kann, wenn mein Bewusstsein eindeutig geworden ist hinsichtlich der Tatsache, dass ich nichts tun kann als jederzeit zu meinem Besten für mich, dann werde ich, nicht nur der Logik folgend, sondern aus meinem Herzen, diese Selbstverantwortung, dieses jederzeit sein Bestes tun für sich, auch jedem anderen Menschen, ja jedem Wesen zubilligen. Nicht nur "zubilligen" sondern zwangsläufig erwarten, ja wünschen.

Doch dann fühle ich mich sofort in eine Werte-Diskussion hineingezogen. Wenn kulturelle Differenz nicht mit einem Konsens über Basiswerte verbunden werde, sei eine Fragmentierung, also ein Zersplittern der Gesellschaft, nicht aufzuhalten, fasst es
Bassam Tibi, 2009 emeritierter Göttinger Politikwissenschaftler und Islamexperte in seinem Buch "Euro-Islam - Die Lösung eines Zivillsationskonfliktes", zusammen. Genau das passiere bei "Multikulti", wo keine universellen Werte gelten, sondem jeder seine eigenen Regeln habe. Im Gegensatz dazu plädiert Tibi für Kulturpluralismus unter dem Dach eines einheitlichen, europäisch-säkularen Wertekanons. Solange der nicht greife, würden Islamisten die Rechtssicherheit und Toleranz in Europa weiter ausnutzen, um die Islamisierung voranzutreiben.

Was könnten diese Werte sein? Meine Liebste sagte spontan "Na, z.B. Pünktlichkeit". Nun, wir Deutschen leben mit dem internationalen Vorurteil deutsch = pünktlich. In südlichen Ländern, in ganz Südamerika wäre jemand höchst unhöflich, wenn er nicht eine halbe Stunden nach der vereinbarten Uhrzeit vor der Tür stünde. Und was sagt mir meine Brockhaus-CD dazu?

"... Vieles scheint am Ende des 20. Jahrhunderts darauf hinzudeuten, dass sich die Menschheit unumkehrbar auf dem Weg in die "Weltgesellschaft" befindet. Freihandel und ökonomischer Wettbewerb, Menschenrechte und Demokratisierung haben sich zu Grundprinzipien entwickelt, die von den meisten Regierungen der Welt (zumindest offiziell) anerkannt werden. Entgegen der These, dass diese Vereinheitlichung der Welt und ihre Zusammenschrumpfung zum "globalen Dorf" das "Ende der Geschichte" bezeichne, diagnostizieren einige Beobachter jedoch zugleich eine wachsende kulturelle Entfernung und eine sich verschärfende Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In der gegenwärtigen sozialphilosophischen Diskussion über Universalismus und Partikularismus lassen sich verschiedene Grundpositionen unterscheiden, die die Frage, was politische und soziale Normen und Regelungen des Zusammenlebens zu begründen und zu rechtfertigen vermag und woraus politisch-soziale Gemeinwesen die für die soziale Integration erforderliche Gemeinwohlorientierung beziehen, unterschiedlich beantworten.

Essenzialistische Positionen, die ihre Argumente vor allem in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Tradition entwickeln, setzen kulturunabhängige menschliche Grundbedürfnisse voraus. Darüber hinaus nehmen sie spezifische menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die zu entwickeln im Interesse eines jeden Individuums liege.

Liberale Positionen, die meist in der Kantischen Tradition stehen, betrachten einen solchen Versuch, die Merkmale gelingenden Lebens kulturübergreifend festzulegen, mit Skepsis. Dazu scheint ihnen die menschliche Natur zu veränderlich und kulturbedingt zu sein. Sie setzen ihr Vertrauen jedoch in die menschliche Vernunft- und Sprachfähigkeit und leiten daraus die Idee ab, dass es allgemein gültige Verfahren gebe, die verbindliche rechtliche und politische Regelungen zu rechtfertigen vermögen. Zwang dürfe daher niemals durch eine partikulare Konzeption des Guten gerechtfertigt werden; das Rechte habe stets Vorrang vor dem Guten.

Der Kommunitarismus richtet sich kritisch gegen die liberal-individualistischen Positionen und lehnt deren verfahrensethischen Ansatz aus zwei Gründen ab: Zum einen erschienen die liberalen Prinzipien nur "vernünftig" und zustimmungsfähig vor dem Hintergrund der abendländischen Kultur und ihrer Traditionen; was den Liberalen als neutrale Grundlage für das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und als Ideal gelingenden Lebens erscheine, sei Ausdruck einer bestimmten Kultur und ihrer Konzeption des Guten. Zum anderen griffen gerade das Bemühen um kulturelle Neutralität sowie die Beschränkung auf formale und individuelle Rechte die Fundamente auch der liberalen Gesellschaften an, weil jedes intakte soziale Zusammenleben auf eine allgemein gültige Definition des Guten und auf gemeinsame Werte angewiesen sei.

Kommunitaristen nehmen also mit den Essenzialisten an, dass Gemeinschaften nicht ohne eine allgemein anerkannte Definition von substanziellen Werten und kulturellen Gütern auszukommen vermögen, die allein eine verbindliche Festlegung des Rechten ermöglichen; daher habe das Gute Vorrang vor dem Rechten. Sie gehen jedoch mit den Liberalen davon aus, dass solche Werte und Güter nur innerhalb partikularer Kulturen und Gemeinschaften entstehen und als "rational" erscheinen können. Entgegen den beiden universalistischen Positionen betont der Kommunitarismus daher die unaufhebbare Partikularität aller Vorstellungen des Guten und Rechten und verzichtet deshalb auf kulturübergreifende Ordnungsvorschläge.

In diesem Punkt stimmt der Kommunitarismus mit "postmodernen" Positionen überein, zu denen auch poststrukturalistische und dekonstruktivistische Theorien zu rechnen sind. Nach ihnen sind alle normativen Orientierungen und moralischen Systeme historisch kontingent: Sie stellen das Ergebnis von "Sprachspielen" und den damit verknüpften Lebensformen dar, die stets das jeweils Abweichende, Nicht-Artikulierbare, "Andere" auszuschließen oder einzuschränken versuchen und die daher immer auch als Ausfluss spezifischer Macht- und Autoritätsstrukturen verstanden werden müssen.

Postmoderne Strömungen misstrauen grundsätzlich sowohl der Konzeption einer universellen Vernunft als auch der Idee individueller Autonomie, die sie als einseitiges Produkt des abendländischen Logozentrismus zu entlarven trachten. Jede Form von Politik, Recht und Moral lässt sich auf diese Weise als repressiv oder ideologisch dekonstruieren; allerdings ist es für diesen Ansatz unmöglich, eine repressionsfreie Ordnungs- oder Moralkonzeption als Gegenentwurf zu entwickeln. Jede der drei anderen Positionen erscheint aus postmoderner Perspektive zwangsläufig als "kulturimperialistisch".

So schaffen die Anerkennung der sozialen Bedingtheit und der kulturellen Geprägtheit der Individuen und die daraus erwachsende Wertschätzung des Gemeinwesens als "gemeinsames Projekt" nach Ansicht der Kommunitaristen erst die Motivation dafür, die Idee sozialer Gerechtigkeit politisch zu verwirklichen und demokratische Mitbestimmung aktiv wahrzunehmen. ..."

Wenn ich das alles auf die Ebene meines alltäglichen Lebens herunterziehe, bleibt mir im Sinn nur das biologische Bedürfniss nach Liebe, Anerkennung, Wertschätzung in der Fülle des Seins, im "Wir ohne Herrschaft", das der Neurobiologe Joachim Bauer beschreibt in "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren". Alles, was ich gefunden habe über "Terroristen" - im engeren Sinne, denn inzwischen wird ja jeder, der nicht mit den Verhältnissen einverstanden ist, ob als Demonstrant in Kopenhagen beim Klimagipfel oder als jemand, der die Atom-Lobby behindert, nach polizeilichen Regeln gegen Terrorismus behandelt -, dass diese Menschen unter großem Hunger leiden. Das ist nicht nur schlicht Hunger nach Essen und Arbeit, wie bei den Jugendlichen in den Slums, sondern, wie die Söhne reicher Araber, hungern sie alle nach Liebe, Anerkennung, Wertschätzung. Alle diese Menschen aber leben im starren Blick auf den Mangel. Dieser Mangel erzeugt Absolutismus und/oder Nihilismus.

Was tue ich, was kann ich beitragen, in meiner gelebten Selbstverantwortung, diesen Hunger zu stillen? Keinem kann ich Arbeit beschaffen. Keinem kann ich eine Sitzung aufs Auge drücken, worin er zurückfinden könnte zum Blick auf die Fülle, mit dem wir alle geboren sind. Vielleicht kann ich nur diese, meine Haltung ausstrahlen, z.B. sitzend vor diesem Bildschirm und solche Texte verfassend. Und jedes Echo kann ich mit meiner ganzen Person entgegennehmen und beantworten. Und weiterhin muß ich wohl zu jederzeit die Balance finden, die natürliche Harmonie von Yin und Yang, hier: in meiner Bedingtheit als Individuum und als Mitgeselle in dieser Gesellschaft. Vielleicht verstehe ich dann auch "Kulturpluralismus" besser.


Zu diesem Abschnitt über die Selbstverantwortung habe ich einige mails bekommen. Einige Sätze haben mich sehr berührt, ich habe mich an meine Ängste und Nöte erinnert. Ich erlebe 'meine Verantwortung' als etwas Freies und Frohes und gelegentlich auch Schweres, weil ich manchmal auf jede meiner möglichen Entscheidungen ein anderes Unglück erwarten könnte.

So schrieb jemand
"Ich bin verantwortlich. Kann ich wirklich wissen, ob das wahr ist? Nein. Ich weiß, so wie ich dieses Leben sehe, vor allem wie es mir zu Anfang von außen beigebracht wurde, und alles das, was ich so lernte, basiert auf Angst. Meine "normale" Weltansicht basiert auf Angst. Alles was ich später für mich gelernt habe, steht auf diesem Fundament oder habe ich aus meiner Auseinandersetzung damit gefunden. Ich kann also nicht wissen, was der Wahrheit entspricht."

Ich höre diesen Schmerz und diese Angst. Doch, wie sieht 'Verantwortung' aus, wo Angst ist? Ist dann solches Antworten nicht nur heilloses Reagieren? Könnten die Angst-Glaubenssätze untersucht werden?

"Wie fühlt sich das an zu denken: Ich bin verantwortlich? Dann ist Verantwortung immer verbunden mit Kontrolle, Manipulation, Leiten und Lenken, andere lehren und be-lehren. In meinem Körper zieht sich alles zusammen."

Hier steckt für mich der Knackpunkt: "Kontrolle, Manipulation, Leiten und Lenken, andere lehren und be-lehren", da stecke ich ja immer in den Angelegenheiten anderer. Da geht es gar nicht um meine Verantwortung für mein Leben. - Doch, auch wenn ich meinen Kindern dazwischenfahre, geht es um mich. Ich reiße sie vor der roten Ampel von der Straße, weil sie
mir lebend lieber sind als tot.

"Ohne den Gedanken 'ich bin verantwortlich' wäre ich ruhig, gelassen. Kein Problem. Nichts zu tun. Brauche nichts zu organisieren. Nichts zu kontrollieren. In meinem Körper breitet sich Leichtigkeit aus."

Denn das Leben lebt sich und mich mittendrin. Ich bin dann nicht mehr in der Illusion von 'Macher'. Ich liebe, was ist, und tue mein Bestes (vermutlich fällt mir hinterher meist noch etwas Besseres ein - aber das ist später, nicht jetzt und hier).

Ich antworte, in jeder Sekunde neu, auf mein Leben. Ich erlebe die Situationen meines Lebens und antworte durch mein Handeln darauf. Und weil dieses Erleben - Handeln ein ununterbrochener und ununterbrechbarer Fluß ist, deutet unsere Sprache das mit der Vorsilbe 'ver-' an. Im etymologischen Wörterbuch fand ich dazu "... 'ver-' dient auch der Verstärkung, z.B. 'verschließen', 'verabreden', ...".

Und mit dieser Verstärkung von 'antworten' zum 'verantworten' deute ich durch mein Sprechen an, daß ich, klar doch, der Macher bin. Womit ich mich wieder in den Netzen von Unterdrückung verfangen könnte: 'Jans muß ..', 'Jans darf nicht ..', 'Jans hätte..', 'Jans sollte endlich..' - statt mich im freien Spiel meines Lebens zu erfreuen und mich in der Liebe des Universums zu sich selber, in meinem Gestern und Heute, Oben und Unten geborgen zu wissen, in lückenloser, bewußter Selbstverantwortung, mitfühlend und beherzt.

Jemand schrieb, das anders gewendet:
Ich sehe deine Traurigkeit in deinen Augen, weil ich meine im Spiegel sehe
Ich spüre deine Schmerzen, weil ich voller Schmerz bin
Ich höre deine Bitterkeit, weil ich Bitterkeit empfinde
Ich spüre deine Wut, weil ich meine in den Bauch hinein fresse und sie nicht raus lasse
Ich spüre deine Verletzlichkeit, weil ich tief in mir nach Liebe schrei
Ich spüre deine Sehnsucht nach Liebe, weil ich mich danach verzehre
Ich spüre das alles, weil ich du bin und du ich


Und dazu eine Variation des Themas im Langtext:
Ich sehe mich in Dir, dem Spiegel.
Aber deshalb begebe ich doch nicht in Deine Angelegenheiten!
Ich kann es gar nicht - ich könnte es uns nur glauben machen.
Ich bin Dir dankbar, daß Du mich meinen Schmerz wahrnehmen läßt im Spiegel des Deinen.
Aber deshalb will ich Dir doch nicht Deinen Schmerz wegmachen!
Ich kann es gar nicht - ich könnte es uns nur glauben machen.
Vielleicht kann ich durch Deine Spiegel-Hilfe leichter meinen Schmerz auflösen.
Zu meiner Freude an Schönheit und Ordnung in meinem Universum!
Das weiß ich - und könnte es Dich nicht mal glauben machen.
Vielleicht kannst Du durch dieses Beispiel leichter Deinen Schmerz auflösen.
Zu meiner Freude an Schönheit und Ordnung in meinem Universum.
Das weiß ich - und könnte es Dich nicht mal glauben machen.
Zu unserer Freude an Schönheit und Ordnung in unserem Universum!
Wie schön, wenn wir das beide wissen werden.
Ich spüre das alles, weil ich du bin und du ich
jeder ein Souverän, beide in Resonanz miteinander.

Was aber, wenn ich diese Bewußtheit, Souverän zu sein, mit der ja jeder Säugling zur Welt kam, vergessen habe. Dafür könnte ja schon der Säugling überlebenswichtige Gründe gehabt haben? Was aber, wenn ich diese Fähigkeit zur Resonanz umbiege von meiner Identität hin zu einer Identifikation mit den anderen, auch aus guten, klugen Gründen? Ich könnte dann glauben, mir selber fremd zu sein.

Das Thema "Entfremdung" in seiner philosophischen Abstraktion setzt die Annahme eines metaphysischen Wesens des Menschen voraus, von dem man sich entfremden könne; unterstellt, Personen verfügten über ein wahres inneres "Selbst", einen Kern, den sie in ihrem Leben verfehlen können; oder, Menschen könnten von ihren "richtigen" Wünschen entfremdet sein, auch wenn sie von diesen gar nichts wissen; oder schließlich, wir wären nur dann ganz bei uns, wenn wir keine Rollen spielen, unverstellt durchs Leben gehen.

Die in Frankfurt lehrende Philosophin Rahel Jaeggi
[7] weiß, daß es keinen "Maßstab (...) für die Echtheit von Bedürfnissen" gibt und daß das "eigentliche oder wahre Selbst" nichts ist, was irgendwo "innen lokalisiert" wäre - weil es doch keine Wahrheit des Selbst jenseits seiner Äußerungen gibt. Auch entwickelt sich das Selbst in der Auseinandersetzung mit den äußeren Bedingungen, und diejenigen, die sich von fremden Wünschen leiten lassen, haben sie schließlich selbst.

Doch, so lautet der Einwand Jaeggis, wenn wir uns auch nicht unserem "eigentlichen Wesen" entfremden können, gibt es doch entfremdete Weisen des Lebensvollzugs. "Entfremdungskritik unter heutigen Bedingungen darf nicht, muß aber auch nicht in einem starken Sinn 'essenzialistisch'
[8] oder 'metaphysisch' begründet sein." Die Frage ist, ob es einem gelingt, "sich zu sich und den Verhältnissen, in denen man lebt und von denen man bestimmt ist, in Beziehung zu setzen, sie sich aneignen zu können".

Nicht daß wir Rollen spielen ist das Problem - entscheidend ist, ob wir Autoren des Skripts sind. Wenngleich gewiß niemand alleiniger Autor seines Lebensvollzugs ist, so sollte er doch zumindest als Koautor seiner selbst amtieren. "Was hier entfremdend wirkt, sind nicht die Rollen per se, sondern die Unmöglichkeit, sich in ihnen angemessen zu artikulieren", formuliert Jaeggi und: "Die Suche nach Authentizität jenseits solcher Formen wäre ein sinnloses Unterfangen - diejenige nach Authentizität in ihnen ein immer wieder neu sich stellendes Problem." Unhaltbar ist die Behauptung, "daß wir durch Rollen überhaupt 'unserer selbst entfremdet' sind", sehr wohl aber sind wir es "manchmal in Rollen".

Entfremdung, so die Autorin, ist eine spezifische Form von Machtverlust: Man driftet durchs Leben, die Dinge passieren einfach, das eigene Leben nimmt sich als selbstständiges Geschehen aus, "auf das man keinen Einfluß hat". Sich mit der Welt nicht entfremdet in Beziehung zu setzen, heißt, sich diese anzueignen. Diese Aneignung ist getragen von der Fähigkeit, die Umstände des eigenen Lebens auch zu prägen.

Gerade in diesem Sinn ist das "entwickelte Selbst" nichts vorgängig Gegebenes, sondern Resultat eines Aneignungsprozesses. So ist auch erklärbar, daß sich jemand verändern, aber doch authentisch bleiben kann. Veränderung heißt weder notwendigerweise, sich seinem Selbst zu entfremden, noch sich diesem zu nähern; unauthentisch kann aber sehr wohl der Prozeß der Veränderung sein. Die Frage ist nicht, ob Subjekte alte Ideale, Lebensweisen etc. aufgeben, sondern "wie sie sie aufgeben". Jaeggi: "Entscheidend ist, ob man den Prozeß in die eigene Lebensgeschichte bzw. das eigene Selbstverständnis integrieren kann." Denn schließlich, so Jaeggi, geht es darum, "mit sich selbst umgehen zu können".

Ich sehe es so: Gesellschaftliche Rollen sind Möglichkeiten des Ausdrucks, sie entfremden nicht automatisch. Man kann eine neue ausprobieren und merken, daß man sich komplett wohlfühlt damit. Mein Grundgefühl ist: Jetzt will ich doch mal sehen, was hier noch so alles geht. Bestimmt eine ganze Menge. Für so eine Einstellung ist ein gewisses Maß an Pathos und auch an Naivität nötig. Es war ein großer Moment, als ich kapierte: Ich bin bereit dafür.


Ich versuche noch eine Definition von Selbstverantwortung:
"Selbstverantwortung beginnt mit der Bereitschaft, Ursache in den Angelegenheiten meines Lebens zu sein." Letztendlich ist es ein Weltbild, von dem aus ich gewählt habe, mein Leben zu leben.

Selbstverantwortung ist nicht Bürde, Verschulden, Lob, Vorwurf, Verdienst, Schande oder Schuld. Bei Selbstverantwortung gibt es keine Bewertung von gut oder schlecht, richtig oder falsch. Da ist einfach, was ist, und das ist meine
Haltung.

Bewußt selbstverantwortlich zu sein beginnt mit der Bereitschaft, mit einer Situation umzugehen von dem Blickwinkel im Leben aus, daß ich der Verursacher davon bin, was ich tue, was ich habe und wer ich bin. Das ist nicht die
Wahrheit. Es ist ein Ort, an dem ich stehen kann.

Niemand kann mich verantwortlich machen, noch kann ich einem anderen Verantwortlichkeit auferlegen. Es ist keine Würde, die ich mir selbst gebe - es ist ein kraftvoller Kontext, der sich so hinterläßt, daß ich freudig in der Angelegenheit meines Lebens selbst etwas zu sagen habe. Vielleicht ist das der Kern von
Menschenwürde. (vgl. 1.5 Wir-Syndrom und Herrschaft, Opfer und Täter)

Noch einmal anders gewendet. Am meisten habe ich unter Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen gelitten. Mein sorgfältig gehütetes Geheimnis ist mein Verdacht, ja, meine Überzeugung: Wenn ich anders gehandelt hätte, dann wäre ich nicht verletzt worden. Das entwickelt sich zu einem festen Glaubenssatz, zur Weltanschauung. Ich werde immer distanzierter zu dieser gefährlichen Welt, damit auch niemand an mich ran kommt. Um diese Not zu wenden, ist es für mich nun noch mehr erforderlich, einem anderen die Schuld an meinem Unglück zu geben. Der Trugschluß liegt in meinem Beharren, daß ich nur unschuldig bin, wenn jemand anders die Schuld hat. Alle meine Abwehrstrategien bewirken nur, mich weiter in diesem Unglück festzuhalten. Und ich, der von Erzogenen Erzogene, habe diese Wahl getroffen.

Da passierte etwas und ich fühlte mich verwirrt, verletzt, mißbraucht. Vielleicht eine Sache von zehn Minuten; von da an bin ich es selbst, der nicht aufhört, sich damit zu quälen, jahrelang. Einer muß ja "Schuld" sein. Wie wäre es mit anderer Wortwahl: "verantwortlich"? - Ich antworte, ununterbrochen. Ich kann nicht
nicht antworten, ich kann nicht mich nicht ausdehnen oder zusammenziehen, lustvoll hin in dieses oder ängstlich weg von diesem Leben, meinem Leben. Wenn ich das schließlich erkenne, bin ich frei. Der Schlüssel zum Leben ist, die Wahrheit zu erkennen und es sich zu gönnen, sie auch zu leben. Mit dieser Erkenntnis vergebe ich mir. Die Kehrseite meiner Lüge über mein Unglück ist meine Vergebung. Mein Geschenk an mich.

Dieses Geschenk gibt mir, was ich immer wollte: ich brauche nicht mehr Opfer zu sein. Das gibt mir absolute Macht und Gelassenheit für mein Leben. Ich bin hundertprozentig verantwortlich für meinen Schmerz und meine Freude. Ich bin es immer schon gewesen. Durch das Vergeben, nämlich indem ich erkenne, was wirklich geschah, bin ich frei.


"Bis man wirklich Verantwortung übernimmt, gibt es Zweifel, die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und immer Ineffizienz. Was alle Handlungen von Initiative (oder Schöpfung) angeht, so gibt es eine elementare Wahrheit, deren Nichtbeachtung zahllose Ideen und hervorragende Pläne umbringt: daß in dem Moment, in dem man sich definitiv verpflichtet, sich die Vorsehung ebenfalls bewegt. Alle möglichen Dinge, die sonst nie passiert wären, passieren, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen folgt aufgrund der Entscheidung und bringt zu eigenen Gunsten alle Arten von Vorfällen und Begegnungen und materieller Unterstützung, von denen kein Mensch geglaubt hätte, daß sie auf diesem Wege kommen würden. Was immer du meinst oder glaubst, tun zu können, beginne es. Handeln enthält Magie, Anmut und Kraft."

Wolfgang von Goethe






  • [1] Rosina Sonnenschmidt: "Dialog mit den Sprachlosen"; in Zeitschrift raum&zeit, Nr 105, 106, 107, 108; Mai - Dez. 2000 über Kommunikation mit Langzeit-Komapatienten
  • [2] Wohnort und Lebensstil entscheiden mit, wie sich die genetische Information einer Zelle ausprägt. Einen Nachweis für diese These erbrachten 2009 australische und US-amerikanische Forscher. "Welche Gene des Menschen exprimiert werden und in welchem Ausmaß dies geschieht, hängt vor allem davon ab, wo man wohnt und welchen Lebensstil man führt", berichtet Studienautor Peter Visscher vom Queensland Institute of Medical Research.
  • [3] vgl. auch: http://www.amication.de/was_bedeutet_selbstverantwortung.htm sowie Anhang 13.1 FREUNDSCHAFT MIT KINDERN - Heft 4 - 09/1982
  • [4] So formuliert das die Policy der Internationalen Community des Reevaluation-Counceling. Anders formuliert ist es eine der Grund-Vorannahmen der NLP-Leute "Menschen sind nicht neurotisch, verrückt oder gebrochen. Sie treffen stets die beste Wahl aus dem, was ihnen an Optionen zur Verfügung steht. Sie funktionieren in ihrem Modell der Welt".
  • [5] vgl. Anhang 13.3 "Psychophysik 2.0 – Betriebsanleitung für das menschliche Unterbewusstsein" E-Book in http://www.psychophysik.com/html/e04-psychophysik.html
  • [6] "Nation, Gemeinschaft, Glaube - Ein Staat braucht Bürger, keine Fundamentalisten"; in Le Monde diplomatique Nr. 9394 vom 14.1.2011, Seite 3; von Zeev Sternhell. Historiker, emeritierter Professor der Hebräischen Universität Jerusalem. http://www.monde-diplomatique.de/pm/2011/01/14/a0035.text.name,askU9uMgv.n,0
  • [7] Rahel Jaeggi: "Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems". Campus Verlag, Frankfurt 2005
  • [8] Essenzialistische Positionen setzen kulturunabhängige menschliche Grundbedürfnisse voraus, neben Ernährung und Fortpflanzung etwa auch das Bedürfnis nach Natur, nach Spiel und Kunst. Darüber hinaus nehmen sie spezifische menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die zu entwickeln im Interesse eines jeden Individuums liege. Hieraus ergebe sich die Möglichkeit, nicht nur einen Katalog universeller Rechte zu definieren, sondern die "Qualität des Lebens" in verschiedenen Kulturen nach dem Kriterium der Verwirklichung der menschlichen Natur von einem neutralen Standpunkt aus zu beurteilen. Eine Sichtweise im Kommunitarismus, einer Politischen Philosophie, entwickelt am Ende des 20. Jahrhunderts, als vieles darauf hinzudeuten, daß sich die Menschheit unumkehrbar auf dem Weg in die "Weltgesellschaft" befindet.




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