Selbsterkenntnis und Eigensinn


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01.4 Gesellschaft

1 Einleitung


Wenn ich hier laut nachdenken will über meine Möglichkeiten von Erkenntnis des Selbst, muss ich wohl notwendigerweise mir deutlich machen, dass dieses Selbst nicht im freien Raum hängt. Es ist eingebunden und damit erscheint es verwundbar. "Wer das Individuum in das Zentrum rückt, versperrt den Blick auf die eigentlichen Machtverhältnisse, die mit dem Schleier untrennbar verknüpft sind", las ich zur Kopftuchdebatte. "Ich", was auch immer das sei, das ist fast immer mit "Wir" verbunden. Jedes dieser "Wir" könnte mit Gesellschaft verbunden sein und diese mit Herrschaft. Damit muss ich mich zumindest im Einleitungskapitel auseinandersetzen.


In Ecuador stellen die Indígenas ein Drittel der Bevölkerung. Mitte 2008 wurde dort eine neue Verfassung verabschiedet, die einen Leitbegriff des guten Lebens definiert. Der Leitbegriff des "guten Lebens", auf Quechua sumak kawsay, geht auf die Weltsicht der Indígenas zurück. Er wendet sich gegen die extreme Fixierung auf das Materielle und betont das harmonische Zusammenleben zwischen Mensch und Natur, die im Verfassungstext auch als Pachamama bezeichnet wird. "Das ist ein enormer Schritt", schwärmt der Ökologe Eduardo Gudynas aus Uruguay, "man beschränkt sich nicht mehr auf die westliche Konzeption von Umwelt und schafft die Möglichkeit zum Bruch mit dem Programm der Moderne, das ja die aktuelle Umweltkrise verursacht hat." In dem Grundgesetz werden weltweit erstmals die Rechte der Natur verankert. Gudynas nennt das die "biozentrische Wende". Oder, wie Evo Morales Anfang 2009 vor der UN-Vollversammlung sagte: "Das 21. Jahrhundert wird als das Jahrhundert der Rechte von Mutter Erde, der Tiere, der Pflanzen in die Geschichtsbücher eingehen." Dann regte er die Ausarbeitung einer Allgemeinen Erklärung der Naturrechte an.

Slavoj Zizek hat unter dem schönen Titel "Use your illusions" einen Text veröffentlicht, der einem anderen Umgang mit Obamas Sieg das Wort spricht. Mit Kant stellt er die Frage: Gibt es wirklichen Fortschritt in der Geschichte? Und mit Kant antwortet er: Ja, insofern es Geschehnisse gibt, die auf die Möglichkeit von Freiheit verweisen. Wie etwa die Französische Revolution, deren Fortschritt nicht so sehr in der blutigen Realität auf den Straßen von Paris lag, als vielmehr im Enthusiasmus, den sie beim Publikum in ganz Europa auslöste, und den politischen Konsequenzen, die daraus folgten. Das heißt, Fortschritt ist dort, wo eine Veränderung nicht nur stattfindet, sondern auch eine Möglichkeit eröffnet wird - die Möglichkeit, dass überhaupt etwas Grundlegendes, etwas Neues passiert.

Veränderung liegt also schon darin, dass sie überhaupt denkmöglich wird. Denn dazu muss sie das, was sie bislang unmöglich gemacht hat, das, in dem sie nicht vorgesehen war, sprengen: die Realität. Die Realität, in der kein Platz war für die Illusion - etwa eines schwarzen US-Präsidenten. Nicht jene, die an solche Illusionen glauben, seien naiv. Die zynischen Realisten - die konservativen Realpolitiker - seien, so Zizek in einer der für ihn typischen Verkehrungen, die eigentlich Naiven. Ihre Naivität liegt darin, blind an die gegebene Realität zu glauben und damit die Möglichkeit zur Veränderung, die Realität ihrer Möglichkeit zu verkennen. Das heißt, die gegebene Situation nie für so abgeschlossen zu halten, dass nicht etwas passieren könnte. Es heißt, die Realität nicht absolut zu setzen, sondern - aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz - dennoch an die Möglichkeit einer plötzlichen, unerwarteten, grundlegenden Veränderung zu glauben. An das, was Zizek mit Badiou
das Ereignis nennt. In diesem Sinne: Freut euch über Obama. Und: Use your illusions!

Lévi-Strauss entdeckt das Gemeinsame der menschlichen Gesellschaften in ihren Regeln. Die Vorschriften etwa, wer wen heiraten darf und wer nicht, können streng oder freizügig sein, geregelt werden sie aber in allen Gesellschaften. Darin entdeckt Lévi-Strauss eine Schnittstelle von Natur und Kultur. Es gehört sozusagen zur Natur der Sache der menschlichen Gesellschaften, das sie den Umgang miteinander regeln, dagegen können Menschen nichts tun, wie sie es aber im konkreten Einzelnen tun, das liegt in ihrer Macht. Die handelnden Subjekte werden somit für Lévi-Strauss von den Objektbedingungen abhängig. Man hat den Strukturalisten deshalb vorgeworfen, dass sie den Menschen zerstören und einer Natur der Bedingungen ausliefern würden. Lévi-Strauss antwortet darauf: Das stimme schon, eine absolute Trennung von Mensch und Natur, wie sie der extreme Humanismus vornehme, lehne er ab. Der Mensch ist nicht zuerst ein denkendes, sondern ein lebendiges Wesen; und das heißt auch: Der Mensch kommt nicht als erwachsener Europäer auf die Welt.

Neurobiologen belegen heute, dass der Mensch ein soziales Wesen ist
[1]. Wir sind aus biologischen und nicht nur aus psychologischen Gründen angewiesen auf Liebe, Anerkennung und Wertschätzung. Auch Aggression steht im Dienste sozialer Beziehungen, sie dient deren Verteidigung. Es ist neurobiologisch messbar: Vertrauen schafft Vertrauen; Misstrauen und Ablehnung begünstigen Aggression.

Charles Darwin verirrte sich im Chauvinismus seiner Zeit, als er einen von Lebewesen gegeneinander geführten Überlebenskampf sehen wollte und ihn zum alles andere dominierenden Prinzip erklärte. Fürst Pjotr Kropotkin entwickelte um die vorige Jahrhundertwende eine wissenschaftliche Antithese zur Darwinschen Theorie vom Überleben des Stärkeren
[2].

In der Antike schrieb der griechische Philosoph Aristoteles in seinem Werk "Politika", dass der Mensch ein "von Natur aus auf staatsbürgerliche Gemeinschaft angewiesenes Wesen" sei. In dieser Gemeinschaft, davon geht Aristoteles aus, wird das sittlich Gute realisiert; sie stellt den geistigen und rechtlichen Rahmen dar, in dem der Mensch lebt und handelt, in dem er zur Selbstverwirklichung findet.

Diese Gemeinschaft hat sich vom antiken Stadtstaat weiterentwickelt heute zum globalen Dorf
[3], mit vielen neuen Erfordernissen und Möglichkeiten, wie die auf Gemeinschaft angewiesenen Wesen ihre Gemeinschaft herstellen und erleben können.

John Perry Barlow, Internet-Vordenker und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation wurde in der taz interviewt: "Sie haben einmal geschrieben, das Internet sei eine Art Lebensform, ein externes Gehirn. Wie soll man das verstehen?" -

"Das Internet ist das Nervensystem des kollektiven Organismus des menschlichen Denkens. Ich betrachte menschliches Denken als eine Art Organismus oder ein Ökosystem. Tatsächlich ist das nur ein feiner Unterschied. Das meiste, was wir als Organismus ansehen, ist in Wirklichkeit eine Ansammlung von kleineren Einheiten, die zusammen interagieren. Das Denken ist da ganz ähnlich. Ideen sind sehr wohl Lebensformen. Die Gemeinschaft des menschlichen Denkens auf globaler Basis wird immer dichter - und reicher. Die Entwicklung des Internets ist so etwas wie das Nervensystem dazu, eine Art globales Gehirn.

Das ist ein Gedanke, den ich für sehr wichtig halte, denn er ändert die Art und Weise, wie man sich zum Internet verhält. Keine mechanische Metapher, sondern eine biologische. Es lässt einen erkennen, dass es sich um eine natürliche Umgebung handelt, die beschützt und bewahrt werden muss statt ausgebeutet, denn das würde schließlich zum Zusammenbruch des Systems führen."

Bringt uns der Herdentrieb ins Netz: Technik als Allegorie sozialer Beziehungen? Das Netzwerk wurde ein Leitbegriff der Jetztzeit - das bestimmt auch das Bild, das wir uns von der Gesellschaft machen. Anfang der 1990er Jahre konnte kaum jemand erahnen, dass es jemals ein Internet geben würde - doch das beeindruckt uns wenig. Die Revolutionen verändern unsere Mentalitäten und unsere Begriffe von Welt und wir halten mit unseren eigenen Gedanken kaum mehr Schritt.

Beispielhaft lässt sich das an der Karriere des Netzbegriffes ablesen. Wir leben in einer Welt horizontaler Netzwerke, von Netzwerk-Schwärmen, dynamischen Maschenwerken, um nur ein paar der Schlüsselvokabeln zu zitieren. Der Begriff "Netzwerk" steht 2005 für - mehr oder weniger - freie Assoziation, für spielerisches Trial and Error, er ist der Konstrastbegriff zur starren, vertikalen Hierarchie, er ist, mit einem Wort, definitiv positiv besetzt.

Dabei war das Anfang der 1990er Jahre noch völlig anders. Da war die Netzmetapher mindestens ambivalent besetzt. Das Netz wurde als Metapher für Zwangsstrukturen benutzt: Aus den Maschen des Netzes gibt es für das Individuum demnach kein Entrinnen. Das Netzwerk war gewissermaßen die Gegenvokabel zur Transparenz; immer schwang, wenn von Netzwerken die Rede war, die Bedeutung von Ränkespiel mit.

Was die Leittechnologie eines Zeitalters ist (oder auch nur als solche erscheint), bestimmt auch die Bilder, die wir uns von der Gesellschaft machen. Die Netzwerkmetapher ist die Illustration kooperativer Wechselseitigkeit von Strukturen und Individuen, die sich gegenseitig brauchen - der Wechselwirkung gegenseitiger Abhängigkeiten der Gleichen.

Das Atom, Leitmotiv der letzten Jahrhundertmitte, evozierte dagegen ein anderes Bild: hierarchisch im Inneren strukturiert, nach außen in Relation zu anderen, aber doch auf sich allein gestellt - es war das passende Sinnbild für einen autoritären Individualismus.

Noch früher, in der Epoche der Schwerindustrie, war die Idee eines autoritären Kollektivismus bildmächtig: Leitbild war "der Industrielle", wie man damals sagte, der Heerscharen von Arbeitern kommandierte, die schwere Maschinen bedienten. Die sollten nicht nachdenken; für den wundersamen Tanz des Räderwerkes sorgte die kluge Regie des Patrons. Seinerzeit wurde die Firma streng hierarchisch imaginiert, nicht unähnlich dem Staat. Damals, etwa zu Max Webers Zeiten, sollten Betriebe wie Bürokratien funktionieren - der totale Gegensatz zu unserer Gegenwart; Bürokratien, ganze Staaten sollen nun wie Firmen funktionieren.

Die gesamte Ideengeschichte ist in gewissem Sinne der ebenso stumme wie eloquente Reflex von Technologie und Wissenschaft. Wir denken über die Technologie als eine Allegorie sozialer Beziehungen. Man sollte technologische Beschreibungen immer unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass in ihnen die allegorische Ebene sozialer Beziehungen zu entdecken ist.

In einer solchen Formulierung steckt natürlich auch ein Kern an Kritik: Mit den Bildern, die wir uns machen, erliegen wir einem technologischen Determinismus. Das aber ist vertrackt, weil die dominante Technologie nicht jenseits der Gesellschaft existiert: die Technologie ist nicht nur pure Technik, sie ist immer schon auch Gesellschaft. Das sollte uns darauf aufmerksam machen, dass wir gut daran tun, auf der Hut zu sein, gerade gegenüber den besonders offensichtlichen Vorstellungen, denen wir ohne viel nachzudenken anhängen. Jedenfalls kann nicht schaden, vorsichtig zu lauschen, was da jeweils in uns denkt.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein; diese geläufige Verkürzung eines Zitats von Karl Marx wird oft so verstanden, dass das individuelle Bewusstsein von äußeren Lebensumständen des Einzelnen geprägt sei. Marx spricht hingegen in dem Vorwort seiner Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" davon, dass die gesellschaftlichen Lebensumstände, besonders die Produktionsbedingungen zur Sicherung der materiellen Existenz, ein bestimmtes Bewusstsein zur Folge haben. Er sagt: "Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt."

Dennoch habe ich die gesellschaftlichen Blickwinkel hier ganz außen vor gehalten. Ich, in dieser Gesellschaft aufgewachsen, erfahre mich bewusst zuerst als Einer und dann erst in Beziehung zur Welt. Wie diese Beziehung zur Welt mich gestaltet, das ist nicht unabhängig davon, wie ich diese Beziehung gestalte. Das lässt sich in marxistisch-materialistischer politischer Theorie auch ganz anders verstehen.

Da wird der Prozess der Subjekt-Konstitution erklärt durch ideologische Anrufung. Diese stellt ein materielles gesellschaftliches Verhältnis dar, das ein Glaubensverhältnis erzeugt, in dem sich das Subjekt als kontrollierende Instanz missversteht. Die neoliberal ideologischen Staatsapparate haben sich mit Disziplinierung und Zwang verbündet und erzeugen einen Prozess der freiwilligen Unterwerfung. Der Prozess ideologischer Anrufung lässt neoliberale Herrschaft in ihrer Dynamik von Individualisierungsversprechen und Individualisierungszwang verstehen. Dieses ermöglicht, Freiwilligkeit und Selbstbestimmung als Formen der Unterwerfung zu erkennen.

Im Vorwort zum "Kapital" stellt Marx "zur Vermeidung möglicher Missverständnisse" fest: "Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind". Das Kapitalverhältnis heute hat sich längst zur subjektlosen Macht über die Subjekte aufgeschwungen und hat gerade deshalb die relative Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft begründet, weil es personaler Macht nicht mehr bedarf. "Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht und ihr müsst sie Personen über Personen geben", proklamierte Marx bereits in den "Grundrissen"; in der bürgerlichen Gesellschaft ist "persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet".

Der Kapitalismus verfeinert zwar die gesellschaftliche Arbeitsteilung, kombiniert immer kompliziertere Wirkungen von "kombinierter Arbeit", wird aber daran scheitern, die Chancen, die dies bietet, zu nützen. Das Konkurrenzprinzip verträgt sich nicht mit der kooperativen Arbeit.

Dies ist von nahezu zwingender Logik - andererseits: Dieser Kapitalismus erweist sich gar als fähig, alle Kreativität dieser Wissensarbeiter schonunglos auszubeuten und sogar deren rebellische Impulse, deren Widerborstigkeit sich als produktive Kräfte zu integrieren; er zwingt sie in das Netz kooperativer, eigenverantwortlicher Arbeit, das freilich vom Lohn-, Konkurrenz- und Wertprinzip eingefärbt bleibt. Selbst aus der Konsumkritik wird ein Konsumartikel.

Und dennoch, das ist die große Paradoxie, konspirieren die Verhältnisse gegen die Verhältnisse, produzieren sie die rebellischen Energien immer mit. Denn wenn gilt, dass der entgrenzte, raffinierte, auf Wissen basierende Kapitalismus den Eigensinn der Subjekte noch für sich produktiv zu machen versteht, so gilt damit auch umgekehrt, dass er diesen Eigensinn auf immer erweiterter Grundlage produziert.

Der Kapitalismus scheitert zwar nicht, wie Marx dachte, weil er die Kreativitäten, die er zu wecken vermag, nicht zu nützen verstünde. Doch er schafft, gerade weil er sie zu wecken, zu hegen und zu pflegen versteht, ein emanzipatorisches Potential - in Gestalt des Eigensinns der Vielen. Eine Vielzahl von Menschen, die kaum mehr vereint als eine Vorstellung von "Erfolg", welche sich simplen, in Geld zu messenden Rationalitäten entzieht, haben einen gemeinsamen Nenner von "Würde" und von Selbstbestimmung - Eigensinnigkeiten, die im strengen Sinn von den Verhältnissen selbst geschaffen werden.

Die innere Dynamik des Kapitalismus schafft die Voraussetzung jener Ideen von Autonomie, welche sich an den Realitäten von Produktion, Organisation, Kapitalverhältnis und Herrschaftsstrukturen immer wieder brechen. Mit vielfachen Ergebnissen: Frustrationen, gescheiterten Rebellionen und gebeugten Existenzen, aber auch spielerischen Erfindungen neuer Lebenszusammenhänge - durch die Jungen, die "ihr Ding" machen -, Verweigerungsversuchen, Ich-AGs und Lebenskünstlern. Die materielle Bewegung "macht" die Subjekte und vermag sie dennoch nicht völlig widerspruchsfrei an sich anzuschließen. Wie ein unausrottbarer Kern sitzt das emanzipatorische Potential in dem paradoxen Raum, den dieser Kapitalismus aufspannt.
[4]

Eine andere Praxis setzt voraus, die eigene Eingebundenheit zu erkennen. Das Falsche ist nicht das Andere. Ich bin es auch, es geht durch mich hindurch. Jede Handlung reproduziert das Ganze. Und hier beginnt die Alternative: Das Spielfeld verlassen, die Spielregeln außer Kraft setzen, nicht mehr mitspielen - wo immer es geht. Es geht nicht immer, aber sehr oft. Geht es nicht, dann ist das Falsche bei vollem Bewusstsein zu tun und nicht als das Richtige zu verbrämen. Denn es sind immer zwei Schritte: wahrnehmen und handeln. Geht das Zweite nicht, geht immer das Erste. Keine Selbstzensur, das Wahrnehmen, Empfinden und Erkennen nicht umdefinieren, sondern mit Bewußtsein klarmachen: "Ich müsste widersprechen, aber ich halte die Klappe, weil ich sonst rausfliege. Aber: Es ist falsch." Das trennt Welten von einer Haltung, die das eigene Falsche zum Richtigen umdefiniert: "Widerspruch ist nicht nötig, denn ich bin ja nicht beteiligt." Oder: "Der Andere ist Schuld, ich habe Recht."

In ihren guten Momenten ist den 68ern jene unverzichtbare, explosive Mischung gelungen: Sie verbanden eine breite Neugierde für ökonomische Grundlagen mit einer Respektlosigkeit gegenüber den vorhandenen Strukturen und Autoritäten. Und sie haben sich selbst ermächtigt, sich neu zu erfinden. Nichts weniger steht vierzig Jahre später wieder an: die freudvolle Neuerfindung eines politischen Subjekts, das aus den gemachten Fehlern lernt, ohne sich selbst für ohnmächtig zu erklären; eines Subjekts, das wieder mit einem strategischen Wir operieren kann.


sklaven
lasten ihr gefühl
sklave zu sein
den freien an
und bleiben dadurch
sklaven
freie aber sind frei
sich frei zu fühlen
[5]

Es mag ja sein, dass ich kein rationales, autonomes Individuum politischer Praxis bin, doch ich bestehe auf meiner uneinschränkbaren Selbstverantwortung. Die normative Gleichheit aller Menschen im universellen Maßstab ist eine notwendige und plausible Folge der Aufklärung, des Selbstdenkens. Ich bin rechtsfähiges Subjekt und damit selbstgemachte Voraussetzung des Rechtsstaats, in dem ich lebe. Jemand kann mir eine Pistole an den Kopf setzen und ein Tun, Dulden oder Unterlassen von mir fordern. Ob ich zu der Forderung ja sage oder zu meinem Tod, das bleibt meine Entscheidung, denn
ich bewege meinen Mund zum Ja oder Nein. Billigend nehme ich die Nachteile meiner gewählten Antwort in Kauf. Es mag sein, dass ich ein gelogenes Ja zu sagen mehr billige als für ein ehrliches Nein mich erschießen zu lassen; deshalb muß ich nicht auch noch dazu das eigene Falsche zum allgemein Richtigen umdefinieren.

Ich plädiere für eine wahrnehmende Distanz zum eigenen Tun, für einen gelassenen Überblick über Handlungsmöglichkeiten. Für das alltägliche Handeln ist es ein Unterschied, ob ich mich von der Entfremdungslogik aufsaugen lasse, sie verinnerliche und wieder hinaustrage und andere damit unter den gleichen Druck setze, unter dem ich möglicherweise stehe. Oder, ob ich distanziert und ohne moralischen Zeigefinger auf mein eigenes Tun schaue, um es genau nach solchen quasi-automatischen Wiedergaben fremder Sachzwänge abzusuchen - auf das ich es beim nächsten Mal vielleicht lassen kann oder wenigstens nicht mehr als "richtig" oder "gerecht" rechtfertigen will, vor mir und anderen.

Das kann ja alles durchaus missverstanden werden als hemmungsloser Individualismus, gar als Egoismus. Doch, ich bin Mensch und deshalb bedarf ich des Du und des Wir, um mich in meiner ganzen Menschlichkeit zu erfahren. Nun habe ich zu oft erlebt, dass ein Ich, das sich nicht aus seinem Selbst erkennt, sondern das versucht, sich über die Dus und Wirs zu definieren, schnell sich verlieren kann in Kränkung oder in mir gar als krank erscheinender Solidarität. Was ich damit meine, darauf wirft ein Schlaglicht, was wir derzeit als Globalisierung, Terrorismus und als Fundamentalismusdebatte erleben. Darum beschränke ich mich in diesem Text auf das Selbst.

Jeder Fortschritt trägt den Versuch der Selbstverwirklichung in sich. Gesunder Narzissmus - gesunde Selbstliebe - ist eine wesentliche Triebfeder jeder Weiterentwicklung, jeder Forschung und aller Leistungen des Menschen. Ohne die konstruktive Seite dieser Energie würde menschliches Zusammenleben nicht funktionieren. Daher ist es wichtig, dass viele Menschen in einem sozialen Gebilde ein echtes, starkes Selbstwertgefühl besitzen. Das gilt besonders für die, die leiten und führen, damit sie nicht selbst bedürftig sind und auf krankhafte Weise zu Massenverführern werden müssen, um die eigene Minderwertigkeit zu kompensieren.

Die Phänomene "Hitler" und "drittes Reich" sind schreckliche Negativbeispiele. Das Festhalten an Macht um der Macht willen ist ein deutlicher Hinweis auf "Es wird solange
Hitlers geben, wie es Hitlers in uns selbst gibt." Es ist unendlich viel leichter, einen Krieg zu erklären, als das Schwierige auf sich zu nehmen, den wirklichen Gegner zu erkennen. Der sind wir nämlich selbst. Wir projizieren unsere eigenen Probleme nach außen auf die anderen und bekämpfen sie dort. Der wahre Feind ist unsere Neigung parteiisch zu sein, unsere Neigung gierig zu sein, unsere Neigung blind zu sein, unsere schlimme Neigung, uns selber bis dahin zu verleugnen, dass wir unsere innere Wahrheit nicht mehr fühlen und so zum Opfer für alles fähig werden.

Oder könnte es sein, dass wir mit unserem abendländischen Fortschrittsglauben, der verbunden ist mit einem Glauben an die Individualität, letztlich in eine Sackgasse geraten sind? Jedes Modell funktioniert ja, zumindest eine Zeit lang, wird nur fest genug daran geglaubt. Was könnten wir aus dem Vergebungs- und Versöhnungsprozess in Südafrika über Selbsterkenntnis lernen?

In der Eröffnungsrede des internationalen literaturfestivals berlin, 2004, sagte Antjie Krog
[6] u.a.:

"... Dieses Jahr feiert Südafrika zehn Jahre Demokratie. Für die ausländischen Journalisten, die sich in der letzten Zeit durch unser Land bewegt haben, scheint die Friedlichkeit der Armut ein größerer Schock gewesen zu sein als die Armut selbst. Ihren Berichten nach zu urteilen, haben sie offenbar vielen Schwarzen das Gefühl vermittelt, sie sollten sich schämen, dass sie vergeben haben und sich um Versöhnung bemühen.

Dass die Weißen eine der ihren womöglich überlegene Weltsicht nicht anerkennen können, ist in Afrika nichts Neues. Erlauben Sie mir, Ihnen ein im 19. Jahrhundert aufgezeichnetes Gedicht der /Xam, einer Untergruppe der San oder Buschmänner, vorzutragen. Es besagt: So wie ihr Bücher lest, um etwas zu wissen, lesen wir unsere Körper. Wir spüren, wie der gesamte Kosmos in unseren Körpern pulsiert. Die Buschmänner oder San haben sich einst für eine andere Existenzweise entschieden. Sie haben sich dafür entschieden, leicht zu leben auf Erden. Sie haben nichts hinterlassen außer Geschichten und Liedern, Bildern und Schnitzereien von großer Schönheit, in denen Mensch und Erde, Regen und Tier zu Visionen einer verpflichtenden Verbundenheit verschmelzen. Dennoch wurden die Buschmänner von den Weißen wie Tiere gejagt.

Vorahnungen der /Xam
das alphabet der buschleute ist unseren körpern eingeschrieben / die buchstaben sprechen und vibrieren / die buchstaben bewegen den körper des buschmanns
wenn deine rippen zu pochen beginnen / nimm deine pfeile / denn du hast den springbock schon mit deinem körper gesehen / du spürst das blut in deinen schenkeln und waden / als würdest du den springbock schon auf deinem rücken nach hause tragen / als würde der springbock schon deine schenkel hinabbluten
daher warte ich immer ruhig auf die worte meines körpers / ich spüre auf meinem schädel, wenn sie die hörner der antilope absägen / ich spüre in meinen füßen, wenn sie um die hütte streichen
wir legen uns vor unsere unterstände / wir legen uns auf die ausgestreckten hänge der hügel / es scheint, als würden wir schlafen / als würden wir ein nickerchen machen
doch wir lesen unsere körper / wir lesen alles, was sich unten in den ebenen bewegt / die kehlen unserer knie kribbeln / und dann warten wir / und dann kommt alles zu uns

Die Vorstellung, dass Vergebung Schande sei, reicht bis zu den Anfängen des Aufarbeitungsprozesses in der Wahrheitskommission zurück. Ich weiß noch, wie mich eine australische Wissenschaftlerin auf einer der Anhörungen zu den Menschenrechtsverletzungen zornig fixierte: "Es ist unglaublich, welches Unrecht ihr Weißen den Schwarzen angetan habt, indem ihr sie gezwungen habt, diesen ganzen Wahrheits- und Versöhnungsmist zu schlucken! Was ihr jetzt macht, ist schlimmer als Apartheid. Durch Betrug und Manipulation habt ihr die Schwarzen dazu gebracht, diese Institution ohne einen einzigen Aufstand, ohne auch nur einen Akt des kollektiven Widerstands hinzunehmen." Dass sie damit vielleicht jene Menschen beleidigte, die gerade erst das übermächtige Apartheidregime zu Fall gebracht hatten, schien ihr gar nicht in den Sinn zu kommen.

Ich möchte diese Position von einem anderen Blickwinkel aus aufgreifen. Der Individualismus ist ein zählebiger moderner Mythos. Wie schon "Robinson Crusoe" sucht die westliche Fantasie ein von aller Gemeinschaft unabhängiges Individuum zu erschaffen. Zwar muss auch Robinson eine neue Gemeinschaft gründen und zu diesem Zweck erst seinen Freitag finden. Der Mythos vom Individuum als wichtigster Bedingung für den Fortschritt blieb davon jedoch unangefochten. Ohne Individuum keine Entwicklung.

Der französische Semiotiker Dany-Robert Dufour merkt hierzu an: "In unserer Zeit der liberalen Demokratie ist der Versuch, man selbst zu sein, allen zwanghaften Bedingungen vom Selbstbewusstsein zum Trotz ungeheuer mühsam. Eine ganze Reihe von Symptomen bezeugt die 'Behinderung des Individuums' in zeitgenössischen Gesellschaften. Psychische Störungen, das Unbehagen an der Kultur, die zunehmende Gewalt sowie die in großem Maßstab betriebene Ausbeutung sind allesamt Vektoren neuer Formen von Entfremdung und Ungleichheit. Das moderne Individuum ist nicht frei, sondern verlassen und verloren".

Im folgenden Gedicht aus der Sesotho-Sprache geht es darum, was es bedeutet, nur ein Einzelner zu sein. Es ist Teil eines Schauspiels über Senkatana, das auf ein bekanntes Basotho-Märchen zurückgeht. In ihm verschlingt der Drache Kodumodumo das gesamte Volk der Basotho und schwillt davon so gewaltig an, dass er schließlich in den Passstraßen des Hochgebirges stecken bleibt. Von allen Menschen überlebt einzig Senkatana. Er ist mutterseelenallein auf der Welt, kann tun, was er will, ist frei, und dennoch wehklagt er mit lauter Stimme:

ich kann mich selbst nicht finden / denn ich befinde mich nicht bei den anderen / worüber soll ich mich freuen, wenn ich ganz allein bin? / wovon soll ich befreit werden, wenn nur ich da bin? / warum sollte irgend etwas schön sein / wenn nur meine augen es sehen?
ihr seid es, die mein ich hervorrufen / ich bin es, der sein ich durch euch denkt / ihr denkt mein ich aus / ich wähle euch nicht / daß es euch gibt, erschafft mich / wir sind gemacht, mit anderen zu sein / oder wir werden hungrig bleiben mitten überfluss

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein Modell für den Umgang mit den Greueltaten von Unrechtsregimen herausgebildet. Das starke neue Modell, das die Schwarzen Südafrikas ins Leben gerufen haben, ruht im wesentlichen auf zwei Säulen: erstens auf der Gleichbehandlung aller 0pfer (die Mutter, die ihren Sohn im Kampf für die Apartheid verloren hatte, sagt neben der Mutter aus, deren Sohn im Kampf gegen die Apartheid gefallen war, womit anerkannt ist, dass beide gleichermaßen litten); und zweitens auf einem gesamtgesellschaftlichen Versöhnungsprozess, der den Kreislauf der Gewalt unterbricht. Und es ist wichtig festzuhalten, dass damit überhaupt zum ersten Mal eine echte Alternative gewagt wurde - die sich die Erste Welt aber, so groß Lob und Auszeichnung auch waren, nie als Beispiel nehmen wollte und will.

Der Rassismus geht noch weiter: Staatsoberhäupter, die ohne Zögern in andere Länder einmarschieren, kommen von weit her angereist um sich mit unserem ehemaligen Präsidenten Nelson Mandela ablichten zu lassen. In ihrem eigenen Land tun sie alles, um "Täter" vor Gericht zu zerren, Mandela aber wird umarmt, weil er den Mördern seines Volkes vergeben hat. Warum? Es sei mit der angemessenen Scham bekannt: weil der Westen Wut versteht, weil ihn die Rache fasziniert und er den Hass aus tiefstem Herzen bewundert. Jeder hat sich seine Begründung dafür zurechtgelegt, dass er andere töten muss: Die Wahrheits- und Versöhnungskiste ist gut für schwarze Menschen aus der Dritten Welt, aber wir Katholiken/ Christen/ Muslime/ Amerikaner/ Juden/ Palästinenser lösen das Problem anders - und besser.

Während wir hier in dieser Stadt, in diesem Jahrhundert sitzen, durchrauscht uns so vieles, dass wir nicht mehr wissen, wie die Sterne sich anhören, wie der Stein schmeckt, die Luft sich anfühlt oder wie man dem Himmel ins Herz schaut. Die Buschmänner mit ihrer vieltausendjährigen Erfahrung als Sammler und Jäger kannten den Klang der Sterne. Der Westen weiß davon erst seit 1930 - oder spätestens 1967, als die Astronomin Jocelyn Bell in Cambridge ein riesiges Radioteleskop baute, um den Klängen aus dem All zu lauschen.

was die Sterne sagen
die sterne nehmen dein herz / denn sie sind nicht hungrig / die sterne tauschen dein herz mit einem sternenherzen aus / die sterne nehmen dein herz und geben dir dafür ein sternenherz / dann wirst du nie wieder hungrig sein
denn die sterne sagen: "tsau! tsau!" / und die buschleute sagen, dass die sterne die augen des springbocks verfluchen / die sterne sagen: "tsau!" sie sagen: "tsau! tsau!"

Sind also 40 Millionen Menschen durch betrügerische Machenschaften auf einen Weg des Fortschritts geführt worden, oder zeigt sich hier eine so radikale Weisheit, daß der Westen Mühe hat, ihr zu folgen? Eines darf man wohl getrost annehmen: Was in Südafrika möglich war, hat nichts mit dem christlichen Glauben zu tun, denn sonst wäre das Gleiche auch in Irland oder in den USA möglich gewesen. Im Gegenteil scheinen gerade die protestantischen Fundamentalisten im amerikanischen Süden und Mittelwesten, im so genannten Bible Belt, besonders oft an vorderster Front zu stehen, wenn es gilt, Rache zu nehmen. Auch mit dem Einfluss der Weißen hat das Ganze nichts zu tun, denn die Weißen (speziell die Buren) glauben bis heute nicht an die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungkommission. Wenn sie unter sich sind, sagen sie eher: "Was ist nur los mit diesen Schwarzen, nicht einmal richtig hassen können sie, und mit denen müssen wir uns nun ein Land teilen."

Im Übrigen ist es unwahrscheinlich, dass die vielen meist jungen Leute, die die zehnjährige Schule der Massenbewegung durchlaufen hatten, 1994 etwas akzeptiert hätten, was ihnen gegen den Strich ging, nur weil zwei alte Männer, Tutu und Mandela, oder irgendein Weißer es ihnen gesagt hätten. Und hier möchte ich folgendes sagen: Man verkennt Tutu, wenn man ihn lediglich als religiösen Führer begreift. Bush begeht einen Fehler, wenn er in Mandela bloß den außergewöhnlichen Staatsmann sieht. Tutu und Mandela würden immer darauf hinweisen, dass ihr Denken seine Wurzeln in der schwarzen Gemeinde Südafrikas hat. Das Wesen ihrer Existenz ist, dass sie Schwarze in Afrika sind.

Die Mutter eines der Sieben von Guguletu, die von der Polizei brutal niedergeschossen worden waren, - eine gebrochene Frau mit geringer Schulbildung - hat den für das westliche Denken unverständlichen Versöhnungsgedanken verstanden und in Worte gefasst. Cynthia Ngewu, die Mutter von Christopher Piet, sagte: "Wenn ich das, was die Leute Versöhnung nennen, richtig verstehe [ ... ], wenn es bedeutet, dass der Täter, dieser Mann, der Christopher Piet erschossen hat [ ... ], wenn es bedeutet, dass dieser Mann wieder ein Mensch wird, so dass auch ich, dass wir alle unsere Menschlichkeit wiedererlangen [ ... ], dann bin ich einverstanden damit, dann unterstütze ich alles."

Cynthia Ngewu hat gewusst - und George Bush nicht - dass, wer den Sohn eines anderen tötet, dies tut, weil er seine Menschlichkeit verloren hat. Sie hat gewusst - und Bush nicht - dass es in ihrem (wie auch in seinem) Interesse liegt, dem Täter dabei zu helfen, seine Menschenwürde wiederzuerlangen. Cynthia Ngewu hat im Gegensatz zu Bush gewusst, dass die Chance, die eigene Menschlichkeit zurückzuerlangen, zerstört wird, wenn man den Täter mit dem Tode bestraft. Man friert dann gleichsam die Gesellschaft im Zustand der Unmenschlichkeit ein.

Die Frau in der Hütte in Houtbay hat also nicht vergeben, weil sie glaubte, sie werde nun endlich bekommen, was bisher den Weißen gehörte. Sie vergab aus der Einsicht heraus, dass die Weißen ihre Menschlichkeit verloren haben und ihre Unmenschlichkeit inmitten all ihres Reichtums auch verhindert, dass sie selbst, die schwarze Frau, ihre eigenen Möglichkeiten als Mensch voll ausschöpfen kann. Sie vergab, um die Weißen zu humanisieren. Zu befragen wären daher nicht die schwarzen Hüttenbewohner, zu befragen wären die Weißen in ihren Palästen: Was habt ihr getan, um euch erkenntlich zu zeigen für die überwältigende Güte, mit der euch verziehen worden ist? Und was tut ihr jetzt, um zu zeigen, dass ihr eure Menschlichkeit allmählich zurückgewinnt?

Diese Fragen richten sich natürlich auch an die Menschen im Westen insgesamt. An euren Händen klebt so viel Blut, die halbe Welt habt ihr geplündert und euch in eurem Wohlstand eingeigelt - ihr habt eure Menschlichkeit längst verloren. Weil ihr so unmenschlich seid, kämpfen wir darum, menschlich zu bleiben. Ihr braucht uns: nicht um uns auszubeuten, sondern damit ihr eure Menschlichkeit wiederfindet. ..."

Ich frage mich, wie kann der Täter - zum Wohle der Gesellschaft, in der er lebt - seine Menschlichkeit wiederfinden, wie kann ihm seine Menschenwürde wieder erlebbar werden? Von den Algonqin-Indianern hörte ich, sie kennen kein Wort für 'Gerechtigkeit'. Ein Mörder wird von der Familie des Opfers adoptiert. So wird die Ganzheit wiederhergestellt, das Ich im Wir.

Doch hier, in meinem Text geht es nicht um Individualismus noch um Gesellschaft, welcher Spielart auch immer. Es geht um meine Erkenntnis meines Selbst. Wer redet, wenn ich sage "ich bin"? Was redet da? Reden setzt Sprache voraus und Sprache Gesellschaft. Die Gesellschaft, in der ich lebe, lässt bis heute erkennen, dass sie tiefgreifende Täter- und Opfererfahrungen gemacht hat. Die sind auch in mir wirksam, wenn ich "ich bin" denke.

Verhalten wird nicht einfach durch überdauernde, tief im Innern verborgene seelische Strebungen determiniert. Unsere eigentlichen Handlungsmotive sind nicht bloß sexueller, aggressiver oder narzisstischer Natur. Auch im dynamischen Unbewussten scheint es eine permanente Rückkopplung zwischen der inneren und der äußeren Welt zu geben - eine mentale Austauschbewegung, die bereits mit der frühesten Interaktion zwischen Mutter und Kind einsetzt.

Nicht zuletzt durch die Befunde der Säuglingsforschung sieht sich die moderne Psychoanalyse genötigt, ihre klassisch-internalistische, auf der Trieb- und Strukturtheorie basierende Auffassung aufzugeben, die Adorno noch verteidigte, als er mithilfe von Fragebögen und Persönlichkeitsskalen empirisch ermittelt hatte, die Untaten der Nazis seien womöglich auf einen bestimmten Sozialcharakter zurückzuführen - etwa auf die faschismusanfällige "autoritäre Persönlichkeit". In ihren relationalen oder intersubjektiven Ansätzen spürt Psychologie der Vernetzung von Seele und Umwelt nach und nimmt dabei die Vermittlungen zwischen individueller Psyche und sozialer Realität in den Blick.

Das Modell, das Harald Welzer
[7] anbietet, um die sozialpsychologische Dynamik von Genozid zu erklären, enthält drei ineinander verschachtelte Kreise. Der erste Kreis entsteht durch einen gesellschaftlichen Diskurs, in dessen Verlauf eine Gruppe für minderwertig erklärt und so radikal ausgegrenzt wird, dass sich am Ende das "Tötungsverbot in ein Tötungsgebot" verwandelt. Der zweite Kreis entsteht durch eine kollektive Deutungsmatrix, die für das individuelle Handeln neue moralische Maßstäbe setzt und zu verändertem sozialem Regelverhalten führt. Erst im dritten Kreis geht es um die Einschätzung der Risiken einer Tat für den Täter, um ihre möglichen Gratifikationen, seelischen Gewinne, unbewussten Ingredienzien usw., also um Psychologie im engeren Sinne. Die Spirale, die schließlich zu Mordbereitschaft und zu mörderischem Handeln selbst führt, beginnt also nicht mit Psychologie oder Psychopathologie, sie endet höchstens mit ihr.

Dabei ist entscheidend, wie die handelnden Personen die Welt wahrnehmen und welche sozialen und normativen Kontexte diese Wahrnehmung prägen. Offenbar genügt eine mentale Koordinatenverschiebung, die im Falle der Nazis rassentheoretischer Art war, um einer Gruppe von Menschen jeden menschlichen Status abzuerkennen. Die Lehre von der Höher- und Minderwertigkeit bestimmter Rassen war keineswegs eine Erfindung der Nazis.

Diese Lehre war, insbesondere in Deutschland ("Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene"; Gründung 1905), aus der Darwinschen Abstammungslehre ("Die Abstammung des Menschen; 1871) und seiner Theorie der natürlichen Zuchtauswahl ("Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein"; 1859) entwickelt worden. Sie entsprach nicht nur dem weitgehenden Konsens der damaligen zeitgenössischen Humangenetik und konnte insofern international "wissenschaftlich" begründet werden. Die Ideen Darwins wurden in Deutschland auch von zahlreichen einflussreichen Persönlichkeiten aus allen Gebieten der Geistes- und Naturwissenschaften verbreitet und um zahlreiche Elemente, vorallem in Richtung Eugenik und 'Rassenkampf' ergänzt.

Auf diese Weise ließe sich erklären, was doch dringend erklärungsbedürftig ist: wie spätestens in den Jahren nach 1933 völlig normale Menschen in diese wahnhafte Ideologie sich haben hineinziehen lassen; wie eine Mehrheit ihr Wertesystem so hat ändern können, dass sie sich an einem paranoiden Massenwahn aktiv oder passiv beteiligt hat; wie bis dahin seelisch gesunde Männer und Frauen zu gemeinen Mördern werden konnten, die schließlich in ganz Europa ihre Untaten vollbrachten und gar zum industriellen Massenmord perfektionierten.

Welzers Hauptinteresse gilt der Mentalitätsgeschichte des deutschen Faschismus. Und seine These ist ebenso schlicht wie überzeugend: Erst ein rapider Wandel im öffentlichen und privaten Bewusstsein erlaubte es, die Juden zuerst zu diskriminieren, dann auszugrenzen und schließlich zu eliminieren - das Vernichtungsdenken ging dem Vernichtungshandeln voraus. Schrittweise erfolgte innerhalb weniger Jahre eine kollektive moralische Enthemmung, die eigentlich keine Enthemmung war, sondern der Aufbau einer neuen, einer arischen, einer Herrenmenschenmoral, die volksgemeinschaftsbildend wirkte. Es gehörte zur vaterländischen Pflicht, sich eventueller Skrupel zu entledigen. Denn die Juden wurden nicht aus unmoralischen, sondern aus moralischen Gründen umgebracht; man musste sie aus Gründen einer höheren Moral umbringen, weil sie sich gegen Deutschland verschworen hatten, weil sie das internationale Finanzkapital repräsentierten, weil sie das Unreine, das Heterogene, das Ambivalente verkörperten; weil sie den kosmopolitischen Geist der Zersetzung repräsentierten und einiges mehr.

Welzer Einsichten in die Dynamik moderner Genozide, lassen mich schaudern. Wenn heute in Ruanda oder in Jugoslawien und vor 65 Jahren in Deutschland völkische, begriffliche Unterscheidungen die Rechtfertigung zu den "Säuberungsaktionen" lieferten, denen Familien zum Opfer fielen, mit denen die Täter jahrzehntelang friedlich in Nachbarschaft gelebt hatten, was hat sich denn in den Menschen oder in mir verändert, dass solches nicht wieder und hier passieren könnte? Am 8. Mai 1945 hat das Morden aufgehört, nicht aber das dazugehörige Denken. Wieviel Eigensinn brauche ich, um nicht auch mich in solcher Spirale wiederzufinden? Was werde ich tun, wenn ich mich in solcher Spirale erkenne? Über Selbsterkenntnis und Eigensinn nachzudenken, ist offensichtlich kein Glasperlenspiel - es geht um mein Leben.



  • [1] Joachim Bauer "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren"; Hamburg, 2006, Hoffmann & Campe
  • [2] Peter Kropotkin "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" (1908) 1989, Trotzdem-Verlag
  • [3] Dabei sollte man nicht vergessen, dass Marshall McLuhan der Horror ergriff, als er vom globalen Dorf sprach. Das war nämlich nicht als freundliche Metapher gemeint, sondern als Warnung vor dem irrationalen Tribalismus, der sich unweigerlich einstellt, wenn die Welt durch elektronische Medien zusammenrückt. An die Panik, die McLuhan als ständige Begleiterin der Dorfgemeinschaft fürchtete, hat man sich inzwischen leidlich gewöhnt.
  • [4] Robert Misik "Genial dagegen - Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore" Aufbau Verlag, Berlin; 2005
  • [5] Hubertus v. Schoenebeck, in "botschaften des zuhörens"; Mühlheim, 1982
  • [6] Le Monde diplomatique, taz, 12.11.04, LMd, S. 4f; http://www.monde-diplomatique.de/pm/.searchMask "Dem Himmel ins Herz geschaut - Südafrikas Versöhnung passt für den Westen nicht" Von ANTJIE KROG
  • [7] Harald Welzer: "Täter - wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden". Fischer, Frankfurt/M, 2005



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