Selbsterkenntnis und Eigensinn


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7.8 Lernen

7 Wo und was ist Ich?


Der Pädagogikprofessor Carl-Hans Jongebloed hat aus einem Naturwissenschaftlichen Phänomen ein Bildungkonzept abgeleitet. Es stellt erstens das Individuum in den Mittelpunkt. Zweitens kommt es dabei darauf an, daß wir Erziehung und Unterrichtung - also Erarbeitung von Erkenntnissen und Erleben von Erfahrungen - streng trennen. Es gibt zwei wesentliche Felder, auf denen der Mensch sich mit dieser Welt auseinandersetzt. Das eine ist das Feld der gesicherten Erkenntnis über unsere Welt - von der Wissenschaft erarbeitet. Das ist vom einzelnen Menschen ganz unabhängig. Er muß sich die Informationen aneignen, wie sie sind. Die andere Seite ist das Erlebnisfeld. Hier macht er Erfahrungen, die nur von ihm abhängen und deswegen auch immer total subjektiv sind.

Aus diesen beiden Teilen entwickelte Jongebloed das Modell der Komplementarität. Die These von der Komplementarität stammt ursprünglich vom Physiker Niels Bohr. Er hat einleuchtend begründet, daß Licht sowohl als Welle wie auch als Teilchen auftritt. Dieser Widerspruch sei die Begründung für die Kraft des Lichtes. Die Verschiedenheit ist sozusagen die Bedingung der Einheit.

Diese Komplementarität ernst zu nehmen hilft mir, wenn ich mich von den Modellen der Psychologie oder Neurobiologie über Geist und Gehirn den Modellen der Religionen über Geist und Seele zuwende. Dieses lange Studium von Geist-Seele-Modellen ist nicht getan mit dem Verstehenwollen der Texte von Weisheitslehren der Alten - das entspricht dem Feld der von der Person unabhängigen, wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die hier entscheidende, die andere Seite ist das Erlebnisfeld. Es besteht vor allem im geduldigen Wahrnehmen des Stroms meiner Wirklichkeit, meiner Wahrheit, und im Prüfen meiner selbstverantwortlichen Entscheidungen daraus, im Gewahrwerden meiner hellen und dunklen Seiten. Das kann ich zuerst nur in mir selber und dann erst, später, im Austausch mit anderen betreiben. Die Werkzeuge dafür sind zahlreich.

Das kann verwirrend sein, ist meist anstrengend, über längere Strecken möglicherweise sogar schmerzhaft, wenn die dunklen Seiten zu plötzlich in die Bewußtheit treten. Erfreulicherweise sind die motivierenden Momente von Erleichterung gerade zu Anfang häufig. Gelegentlich passiert beglückende Erkenntnis, die solches Studium unmittelbar belohnt. Aber, so hab ich es erfahren am eigenen Leibe, bei mir nahen Menschen sowie in der reichlichen Literatur, es herrscht das Vorurteil, daß Anstrengung und Frust überwögen. Alleine, ohne Unterstützung scheint dieses Studieren kaum möglich zu sein. Es ist alles so subjektiv - für unseren Kulturkreis, heute, ein Schimpfwort.

Deshalb bedarf es dabei solcher Lehrer und Trainer, die diesen Prozeß als Subjekte selber durchgelebt haben und, vor allem, die sich als Subjekte dem Lernenden zu erkennen geben, die nicht 'Vorturner' für die Ausführung 'objektiver' Regeln, von Konzepten, sein wollen. Es heißt, jeder Lehrer kann nicht weiter führen, als er in dem Prozeß selbst gegangen sei. Diese Lehrer laufen nicht öffentlich herum, wie die Beamten an der Uni, wo man sich zu ihnen in den Hörsaal setzen kann.

Nein, diese Lehrer sind versteckt, gestern kann das die Marktfrau sein, morgen ein Kind im Babykorb, selten einer, der sich lehrermäßig anbietet, wie vielleicht ich jetzt mal gerade den Eindruck machen könnte. Meine Lehrer, das können auch alle sein, die ich verurteile. Denn wenn ich diese Urteile untersuche, finde ich mich in diesem Spiegel und bin jenen dankbar, die ihren Job tun. Ihre Angelegenheit ist es, mich an mein Ärgern zu führen, meine ist es, hinter dem Ärger meine Wahrheit aufzudecken, dabei meine Wahnnehmungen zu verändern und auch so den Raum meiner
zugelassenen Informationen zu erweitern.

Dieses Studieren geht nur in Selbsterkenntnis und Selbstdisziplin. 'Selbstdisziplin' hat für mich seinen merkwürdigen Geschmack bekommen durch die Leute, die das Wort als Forderung, und, als meine Erzieher, in unterdrückerischer Weise gegen mich benutzt haben. An sich ist das doch etwas bemerkenswert Schönes. Von lat.: 'discipulus' = der Schüler. Ich bin mir selbst mein Schüler. Ich, der Einzige, als mein Eigner mache mein Eigenes. Ich als mein Autor autorisiere mich, mein Lebensscript und meine Auslegung von dessen Traditionen immer wieder neu zu schreiben und auf meiner Bühne zu inszenieren. Mit mir in der Hauptrolle und in allen Nebenrollen, als Regisseur und als Zuschauer - vor allem, als urteilsloser Beobachter.



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