Selbsterkenntnis und Eigensinn


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4.01 Daten Information Wissen

4 Wissen und Wahrheit?


Kann ich überhaupt meine Informationen, gar Wissen weitergeben? Wie entsteht aus Lesen neues Wissen?
Problematisch ist die verbreitete Neigung, das bisher exponentielle Wachstum digital gespeicherter und übertragener Daten als Zuwachs von Information oder Wissen zu interpretieren.

Der Arbeitskreis "Nachhaltige Informationsgesellschaft" des Ausschusses "Umweltinformatik" der Gesellschaft für Informatik e. V. (GI) erarbeitet ein Memorandum "Nachhaltige Informationsgesellschaft". Im derzeitigen (2003) Entwurf
[1] heißt es zu Daten, Information und Wissen:

"...

  • Daten sind in Form von Zeichen (d.h. als Zahlen, Texte oder Bilder) codierte Erfahrungen.
  • Aus Daten werden Informationen, wenn sie von einem System (Individuum oder Organisation) im Kontext seiner Relevanzkriterien interpretiert werden.
  • Aus Information wird Wissen, wenn die Information in den Erfahrungskontext eines Systems eingebettet wird. Erst die gesellschaftlich vermittelte Fähigkeit, Daten zu "lesen", macht daraus Information. Wenn das Individuum sie schließlich im eigenen Lebenszusammenhang umzusetzen vermag, dann ist aus Information Wissen geworden. Wenn man auch Organisationen (Systeme von Individuen) als Träger von Wissen und Information auffasst, gelten für sie analoge Aussagen.
  • Da Relevanz und Erfahrung systemspezifisch sind und zwei Systeme praktisch nie über gleiche Relevanzen oder Erfahrungen verfügen können, ist es genau genommen unmöglich, Information oder gar Wissen zwischen zwei Systemen zu "übertragen". Was übertragen werden kann, sind ausschließlich Daten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist Kommunikation kein Vorgang der Informations- oder Wissensübertragung, sondern führt vielmehr zur Entstehung neuer Information und danach neuen Wissens beim Empfänger.

..."

Diese Definitionen hat Gregory Bateson, ein Kybernetiker, etwas, in den Konsequenzen radikaler, anders formuliert
[2]:

  • Ein Datum ist ein Unterschied (für eine Maschine oder einen Organismus) zu einem vorherigen Zustand. Das kann also so ziemlich alles sein. Zustand ist hier im weitestmöglichen Sinn zu verstehen.
  • Eine Information ist ein Unterschied, der für den Organismus einen Unterschied macht (oder für die Maschine). Von den vielen Unterschieden werden einige zu Informationen dadurch, dass sie in einen Kontext von Relevanz gestellt werden.
  • Wissen ist eine Information von den vielen Informationen, die der Organismus die ganze Zeit verarbeitet, die für ihn wieder einen Unterschied macht. Damit wird diese Information in einen (logisch höhergradigen) zweiten Kontext von Bedeutung oder Sinn gestellt.


Der letzte Schritt ist eine ziemlich abstrakte Sache, mit der Bateson aber wirklich Sinn und Bedeutung meint. Auch kommt die Maschine wahrscheinlich nicht auf diese letzte Stufe.
Wissen bleibt immer noch Daten, mit dem einzigen Unterschied, dass diese Daten in zweifache Kontexte von Relevanz (auf der ersten Ebene) und Sinn oder Bedeutung (auf der zweiten Ebene) eingebunden sind. Dieser äußere Kontext ist in der Regel sozialer Natur. Es sind Bedeutungsräume, Kulturen, Gemeinschaften. Wissen ist so die Einbindung von Daten in einen dynamischen und sozialen Prozess.

Wie ich, das Individuum, zu den Unterschieden komme, zu neuen Daten, Informationen, Wissen, und dies schließlich im eigenen Lebenszusammenhang in Handeln umzusetzen vermag, wie es bei mir als Empfänger, im prallen Leben, zur Entstehung neuer Information und neuen Wissens kommen kann, das möchte ich hier untersuchen.

Neues Wissen? Einerseits hat mein Wissen nur eine gewisse Halbwertszeit, als Ingenieur nur eine von etwa 5 Jahren, andererseits wächst die Menge des Wissens der Menschheit exponentiell; derzeit wird sie alle vier Jahre verdoppelt. Auf die im Internet abgelegte Informationsfülle haben die Suchmaschinen nur zu etwa 2 Prozent Zugriff. Dieses 'Wissen der Menschheit', das ist ja erstmal nur das Wissen von Wenigen; für alle anderen Menschen sind das Daten, meist nicht mal Informationen.

Neues Wissen, brauche ich das? Berührt mein Wissen Wesentliches, das für mich Wesentliche, das meinem Wesen Gemäße? Passen mein Wissen und meine Fähigkeiten zu einander und passen sie zu dem, was mir am Herzen liegt? Identifiziere ich mich mit meinem Wissen und gerate ich dadurch in Kämpfe mit der Realität? Mache ich meine Selbstwertgefühle abhängig von den mir zugeschriebenen Kompetenzen und könnte mich das ängstlich machen, nicht genügend zu wissen? Kann ich immer erkennen, wie wenig objektiv und wie sehr gefühlsmäßig aufgeladen mein Wissen ist? Bin ich achtsam mit mir und meinem Wissen? Könnte das, was ich "mein Wissen" nenne, einfach ein Urwald sein, prallvolle Natur, prall voller Leben, voll neuer Gerüche, Farben, Geräusche, in denen ich lebe, mich bewege und ernähre, in denen ich glücklich bin?

Der buddhistische Friedenslehrer Thich Nhat Hanh
[3] schlägt 14 Übungen zur Orientierung im Umgang mit Wissen vor. Die ersten drei möchte ich hier im vollen Wortlaut wiedergeben:

  • Erste Achtsamkeitsübung - Offenheit: Im Bewusstsein des Leides, das durch Fanatismus und Intoleranz entsteht, sind wir entschlossen, keine Lehrmeinungen, Theorien oder Ideologien, einschließlich der buddhistischen, zu vergöttern und diesen nicht anzuhaften. Buddhistische Lehren sind Hilfsmittel, die es uns ermöglichen, durch tiefes Schauen Verstehen und Mitgefühl zu entwickeln. Sie sind keine Dogmen, für die gekämpft, getötet oder gestorben werden sollte.
  • Zweite Achtsamkeitsübung - Nicht-Haften an Ansichten: Im Bewusstsein des Leides, das durch Anhaften an Ansichten und falschen Wahrnehmungen entsteht, sind wir entschlossen, Engstirnigkeit zu vermeiden und uns nicht an unsere gegenwärtigen Ansichten zu binden. Wir wollen das Nicht-Anhaften an Ansichten üben, um für die Einsichten und Erfahrungen anderer offen zu sein. Wir sind uns bewusst, dass unser derzeitiges Wissen keine unveränderliche, absolute Wahrheit ist. Da sich Wahrheit nur im Leben selbst findet, wollen wir in jedem Augenblick das Leben in uns und um uns herum achtsam wahrnehmen und bereit sein, ein Leben lang zu lernen.
  • Dritte Achtsamkeitsübung - Freiheit des Denkens: Im Bewusstsein des Leides, das durch das Aufzwingen von Meinungen entsteht, sind wir entschlossen, niemandem - auch nicht Kindern - unsere Meinungen aufzunötigen, weder durch Autorität, Drohung, Geld, Propaganda noch Indoktrination. Wir wollen das Recht anderer respektieren, anders zu sein und selbst zu wählen, an was sie glauben und wofür sie sich entscheiden. Wir wollen jedoch anderen in anteilnehmendem Gespräch helfen, Fanatismus und Engstirnigkeit zu überwinden.


Nun sind Daten und Informationen nicht einfach vorhanden, sondern sie sind abhängig vom Blickwinkel, unter dem ein Betrachter sie erkennt. Kenn Wilber schrieb dazu [4] :
"... Meine
subjektive und innere Welt, die viele Namen hat - Bewusstsein, Gewahrsein, Geist, Seele, Vorstellung, Idealismus -, fällt also durchaus nicht mit meiner objektiven und äußeren Beschreibung der Welt zusammen, die ebenfalls viele Namen hat: Gehirn, Natur, Materialismus, materielle, biophysische, empirische Welt. Es gibt ein Innen und ein Außen, Geist und Gehirn, Subjektivität und Objektivität, Idealismus und Materialismus, Innenschau und Positivismus, Hermeneutik und Empirismus usw.

Es erstaunt daher nicht, dass sich praktisch vom Beginn des menschlichen Erkenntnisstrebens an die Theoretiker für einen dieser beiden ganz unterschiedlichen und anscheinend miteinander unverträglichen Erkenntniswege entschieden haben, den inneren oder den äußeren. Von der Psychologie bis zur Theologie, von der Philosophie bis zur Metaphysik, von der Anthropologie bis zur Soziologie war das menschliche Erkenntnisstreben praktisch immer in diese beiden Richtungen gespalten.

Auf der einen Seite gibt es also diejenigen Ansätze, die von objektiven, empirischen und oft auch quantifizierbaren Beobachtungsdaten ausgehen. Diese Richtungen - nennen wir sie die "äußeren", "naturalistischen" oder "empirisch-analytischen" Richtungen - betrachten die physische oder empirische Welt als das Grundlegende, und für sie müssen alle Theorien streng in empirischen Beobachtungsdaten verankert sein.

Selbst in der
Theologie und der Metaphysik geht dieser naturalistische Ansatz von bestimmten empirischen und materiellen Daten aus und versucht, die Existenz des Geistes von empirischen Befunden herzuleiten (wie z. B. das teleologische Argument).

Diesen naturalistischen und empirischen Ansätzen stehen andere gegenüber, die von der Unmittelbarkeit des Bewusstseins selbst ausgehen; nennen wir sie die "inneren" oder die "introspektiven und interpretativen" Ansätze. Diese leugnen nicht die Bedeutung empirischer und objektiver Daten, aber sie verweisen wie William James darauf, dass "Datum" definiert ist als "unmittelbare Erfahrung", und die einzige wirklich unmittelbare Erfahrung, die wir alle haben, ist unsere eigene unmittelbare und innere Erfahrung. Mit anderen Worten, das Ur-Datum ist dasjenige des Bewusstseins, der Intentionalität, des unmittelbaren gelebten Gewahrseins, und alles andere, von der Existenz von Elektronen bis zur Existenz neuronaler Pfade, sind Ableitungen aus dem unmittelbaren erlebten Gewahrsein. Diese sekundären Ableitungen können sehr wahr und sehr wichtig sein, aber sie sind und bleiben sekundär und Ableitungen von der primären Tatsache der unmittelbaren Erfahrung.

In der
Philosophie selbst ist dies natürlich die tiefe Kluft zwischen dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Ansatz der Moderne, ein Unterschied, den beide Lager nicht unter den Teppich kehren (sondern durch die lustvolle Kritik aneinander noch herausstreichen). Der typisch angelsächsische (britische und amerikanische) Ansatz ist empirisch-analytisch. Dies wiederum erschien den großen kontinentaleuropäischen Philosophen immer als unglaublich naiv, seicht und sogar primitiv. Die sogenannte "empirische" Welt ist in einer sehr bedeutsamen Weise nicht einfach Wahrnehmung, sondern Deutung.

Mit anderen Worten, die angeblich einfache "empirische" und "objektive" Welt ist nicht einfach "da draußen" vorhanden, wo man sie nur anzuschauen brauchte. Vielmehr ist die "objektive" Welt in subjektive und intersubjektive Zusammenhänge und Hintergründe eingebettet, die in vielerlei Weise festlegen, was in dieser "empirischen" Welt gesehen wird und gesehen werden kann.

Die Tatsache, dass diese beiden Ansätze, der äußere und der innere, der objektivistische und der subjektivistische, sich auf allen menschlichen Wissensgebieten nachdrücklich und beharrlich behauptet haben, sollte uns etwas sagen: dass nämlich beide Ansätze zutiefst signifikant sind. Beide sind für uns von unschätzbarer Wichtigkeit.

Wenn man nun die Beispiele genauer betrachtet, die ich für die verschiedenen Formen von Erkenntnisansätzen gegeben habe, stellt man fest, dass sie nicht in zwei, sondern vielmehr in vier große Kategorien zerfallen, weil der innere und der äußere Ansatz aus einem individuellen und einem kollektiven Teil bestehen.

Mit anderen Worten, man kann sich jeder Erscheinung aus einer "inneren" und einer "äußeren" Sichtweise nähern, aber auch als Individuum und als Angehöriger eines Kollektivs. Innerhalb dieser vier Lager gibt es große und sehr einflussreiche Schulen. Das nachfolgende
Diagramm 1 enthält die Namen einiger bekannter Theoretiker jedes dieser vier Lager. Oben Links (OL) ist "innen" und "individuell" (z. B. Freud). Oben Rechts (OR) ist "außen" und "individuell" (z. B. Behaviorismus). Unten Links (UL) ist "innen" und "kollektiv" (z. B. die kulturellen Werte und Weltsichten einer Gruppe, wie sie die interpretative Soziologie untersucht). Unten Rechts (UR) schließlich ist "außen" und "kollektiv" (z. B. das objektive gesellschaftliche Aktionssystem, wie es die Systemtheorie erkundet).



Diagramm 1


Um noch einmal auf das innere Denken selbst (OL) zurückzukommen: Man beachte, dass es nur in bezug auf den eigenen kulturellen Hintergrund einen Sinn ergibt. Wenn ich eine andere Sprache sprechen würde, würde sich der Gedanke aus anderen Symbolen zusammensetzen und hätte ganz andere Bedeutungen. Die kulturelle Gemeinschaft dient also als intrinsischer Hintergrund und Kontext für alle individuellen Gedanken, die ich haben kann. Meine Gedanken tauchen nicht aus dem Nichts in meinem Kopf auf, sondern aus einem kulturellen Hintergrund, und wie weit ich mich auch von diesem Hintergrund entfernen mag, kann ich ihn doch niemals ganz hinter mir lassen.

Meine Kultur selbst ist aber nicht einfach körperlos, schwebt, nicht in einem idealistischen leeren Raum. Sie hat materielle Komponenten, wie auch meine eigenen individuellen Gedanken materielle Korrelate im Gehirn haben. Alle
kulturellen Ereignisse haben soziale Entsprechungen. Zu diesen konkreten sozialen Komponenten zählen Technikformen, Produktionskräfte (gartenbauliche, ackerbauliche, industrielle usw.), konkrete Institutionen, schriftlich festgelegte Codes und Muster, geopolitische Orte usw. Dies ist der untere rechte Quadrant, das soziale Aktionssystem. Diese konkreten materiellen Komponenten, das bestehende Gesellschaftssystem, sind entscheidend für die kulturelle Weltsicht, in deren Rahmen meine eigenen Gedanken auftauchen.

Mein angeblich "individueller Gedanke" ist also in Wirklichkeit ein Phänomen, dem (mindestens) diese vier Aspekte eigentümlich sind, der
intentionale, der verhaltensmäßige, der kulturelle und der soziale. Schreiten wir den holistischen Kreis ab: Das Gesellschaftssystem hat einen starken Einfluss auf die kulturelle Weltsicht, die die Bandbreite möglicher individueller Gedanken begrenzt, die sich wiederum in physiologischen Reaktionen im Gehirn niederschlagen. Diesen Kreis kann man in jeder Richtung abschreiten. Die Quadranten sind alle miteinander verwoben und determinieren einander. Sie sind die Ursache aller anderen Quadranten in konzentrischen Kreisen von Kontexten in Kontexten ohne Ende.

Meiner Ansicht nach gibt es diese vier großen Bereiche menschlicher Erkenntnis einfach deshalb, weil diese vier Aspekte des menschlichen Seins sehr konkret, sehr beständig, sehr tief sind.

Jedem dieser "vier Quadranten" ist eine bestimmte Art von Wahrheit oder ein, mit Habermas' Ausdruck, "Geltungsanspruch" zu eigen, das heißt, eine andere Art und Weise, Daten und Evidenz zu sammeln und zu sichten. Eine kurze Übersicht hierzu zeigt
Diagramm 2. Wenn ich sage, dass keiner dieser Quadranten auf die übrigen reduziert werden kann, dann bedeutet dies auch, dass keine ihrer jeweiligen Wahrheiten verworfen oder verkürzt werden kann.



Diagramm 2


Nachfolgend einige kurze Beispiele für die verschiedenen Geltungsansprüche oder "Arten von Wahrheit", wobei ich die vier Quadranten von
Diagramm 1 und 2 durchgehe.

Die Form von Wahrheit, die man im oberen rechten Quadranten findet, wird als repräsentationale, propositionale oder Wahrheit der Adäquation bezeichnet. Eine Aussage ist propositional wahr, wenn sie mit einer objektiven Tatsache übereinstimmt. "Draußen regnet es" ist eine Aussage, wenn dies zum gegebenen Zeitpunkt den Fakten entspricht. Propositionen sind mit einfachen empirischen, objektiven Beobachtungsdaten verknüpft, und wenn diese Propositionen zutreffen, werden sie als wahr bezeichnet. Mit anderen Worten, wenn die
Landkarte mit dem Gelände übereinstimmt, nennt man sie eine wahre Repräsentation oder Adäquation ("Wir machen uns Bilder von Tatsachen"). Die meisten Menschen sind mit dieser Art von Wahrheit recht gut vertraut. Sie ist die Grundlage eines großen Teils der empirischen Wissenschaften, aber auch unseres ganz alltäglichen Lebens. Propositionale Wahrheit ist so allgemein, dass man sie auch mit Wahrheit schlechthin gleichsetzt.

Im oberen linken Quadranten dagegen lautet die Frage nicht, ob es draußen regnet. Sie lautet vielmehr: Wenn ich Ihnen sage, dass es draußen regnet, sage ich dann die Wahrheit oder lüge ich? Sie lautet nicht, ob die Landkarte mit dem Gelände übereinstimmt, sondern vielmehr, ob man dem Kartographen trauen kann.

Wir haben es hier ja weniger mit äußerlichem und beobachtbarem Verhalten zu tun als vielmehr mit inneren Zuständen, und dieses Innere eines anderen Menschen ist mir nur durch Gespräch und Interpretation zugänglich. Wenn ich nicht nur etwas über Ihr Verhalten in Erfahrung bringen möchte, sondern darüber, was Sie empfinden oder denken, dann muss ich mit Ihnen reden und interpretieren, was Sie sagen. Aber wenn Sie mir von Ihrem inneren Zustand berichten, können Sie auch lügen. Ja, man kann sich sogar selbst belügen.

Die Suche nach dieser Art von innerer Wahrheit heißt der Geltungsanspruch Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit (OL). Wenn ich in meinen Aussagen unaufrichtig bin, bekommen Sie keineswegs eine genaue Phänomenologie meiner inneren Zustände, sondern nur eine Kette von Täuschungen und Verheimlichungen. Wenn ich mich schon die ganze Zeit selbst belüge, werde ich darüber hinaus aufrichtig glauben, die Wahrheit zu sagen, und nichts im Kurvenbild des Elektroenzephalographen wird den geringsten Hinweis darauf geben. Soviel zu empirischen Tests.

Die Physiologie der Meditation stützt sich also auf objektive Daten, deren Messlatte die propositionale Wahrheit ist, während sich die Phänomenologie der Meditation auf subjektive Daten stützt, deren Messlatte die Wahrhaftigkeit ist. Wir haben hier ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie der obere rechte und der obere linke Quadrant sich mit ihren je unterschiedlichen, aber gleichermaßen wichtigen Geltungsansprüchen dem Bewusstsein zu nähern versuchen.

Die beiden unteren Quadranten, der innerlich-kollektive und der äußerlich-kollektive, gehen über das Individuelle hinaus und befassen sich mit dem Kollektiven oder Gemeinschaftlichen. Wie wir bei dem Beispiel des Regentanzes der Hopi gesehen haben, nähert sich der untere rechte Quadrant dem Gemeinschaftlichen aus einer äußerlichen und objektiven Haltung und versucht, den Status der einzelnen Mitglieder unter dem Gesichtspunkt ihres
funktionellen Passens gegenüber dem objektiven Ganzen zu erklären. Dieser Ansatz versucht also mit seinem Geltungsanspruch jedes Individuum in ein objektives Netz einzuordnen, das in vielerlei Hinsicht die Funktion eines jeden Teils festlegt. Die Wahrheit liegt für diese Ansätze des unteren rechten Quadranten in der objektiven Vernetzung individueller Teile, so dass das objektive, empirische Ganze, das "Gesamtsystem", die primäre Wirklichkeit ist. Das aus einer empirischen Haltung betrachtete objektive Verhalten des ganzen gesellschaftlichen Aktionssystems bildet die Messlatte, nach der Wahrheiten in diesem Bereich beurteilt werden. Der Geltungsanspruch dieses Quadranten ist, mit anderen Worten, funktionelles Passen, so dass jede Proposition in das Gewebe des Gesamtsystems eingebunden sein muss.

Wenn der untere rechte Quadrant zu erklären versucht, wie Objekte in einem funktionellen Ganzen oder Geflecht empirischer Prozesse zusammenpassen, so versucht der untere linke Quadrant zu verstehen, wie
Subjekte in einem Akt gegenseitigen Verständnisses zusammenpassen.

Anders ausgedrückt: Wenn ich mit jemandem zusammenziehe, nehmen wir nicht nur denselben empirischen und physischen Raum ein, sondern auch denselben intersubjektiven Raum gegenseitiger Wahrnehmung und Anerkennung. Wir müssen dann Mittel und Wege finden, die beiderseitigen Rechte und diejenigen der Gemeinschaft anzuerkennen und zu achten, und diese Rechte sind nicht im objektiven Stoff festgeschrieben, noch sind sie einfach eine Frage meiner eigenen individuellen Aufrichtigkeit, noch eine solche des funktionellen Zusammenpassens empirischer Ereignisse, sondern vielmehr eine Frage des Zusammenfügens unserer Seelen in einem intersubjektiven Raum, das es uns erlaubt, einander anzuerkennen und zu achten.

Was wir also brauchen, ist nicht nur Wahrheit, nicht nur Wahrhaftigkeit und nicht nur funktionales Passen, sondern auch Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Güte und Fairness.


Dieser intersubjektive Raum (unser gemeinsamer Hintergrund und unsere gemeinsamen Weltsichten) ist ein wesentliches Element unseres Menschseins, ohne das es unsere individuellen subjektiven Identitäten nicht gäbe und ohne das wir keine objektiven Wirklichkeiten wahrnehmen könnten.

Man beachte, dass die beiden kollektiven Ansätze gleichermaßen
holistisch sind; dagegen betrachten die Gesellschaftswissenschaften das Ganze eher in einer objektiven oder empirischen Haltung von außen, während die kulturelle Hermeneutik sich dem Ganzen von innen aus einem empathischen Verstehenwollen nähert. Der Geltungsanspruch der ersteren ist funktionelles Passen oder Systemvernetzung, ein interobjektives Zusammenpassen eines jeden objektiven Prozesses mit jedem anderen Prozess. Der Geltungsanspruch der letzteren ist kulturelles Passen oder gegenseitige Anerkennung, die intersubjektive Vernetzung, die nicht zu einer objektiven Verknüpfung von Systemen führt, sondern zum gegenseitigen Verständnis von Menschen. Mit anderen Worten, das eine ist äußerer, das andere innerer Holismus.

(Es ist leicht zu zeigen, dass die meisten Theoretiker, die sich "holistisch" nennen, in Wirklichkeit bloß äußere Holisten sind.
Bisher hat noch niemand einen "Holismus" vorgelegt, der tatsächlich alle vier Quadranten auf allen ihren Ebenen umfassen würde)

Das Entscheidende ist nun, dass alle diese vier Geltungsansprüche ihre jeweils eigene Form von Evidenz und Daten besitzen, weshalb bestimmte Behauptungen innerhalb eines jeden Anspruchs
beurteilt, das heißt bestätigt oder verworfen, bekräftigt oder zurückgewiesen werden können. Damit ist jeder dieser Ansprüche offen für das allentscheidende Falsifikationskriterium jeder echten Erkenntnis.

Jeder weiß, wie die Falsifikation in den empirischen Wissenschaften funktioniert: Landkarten, Modelle und Bilder, die nicht mit den empirischen Befunden vereinbar sind, können durch Beibringung weiterer Fakten schließlich für ungültig erklärt werden. Derselbe Falsifikationsgrundsatz ist aber auf alle echten Geltungsansprüche anwendbar, weshalb in allen vier Quadranten überhaupt erst
Lernen möglich ist: Irrtümer werden durch weitere Evidenz in diesen Quadranten beseitigt.

Diese drei Stränge allen echten Wissenserwerbs (Injunktion/ Experiment, Daten/ Datensammlung, Bestätigung/ Rechtfertigung durch die Gemeinschaft Kompetenter) sind in allen Geltungsansprüchen vorhanden, die selbst wiederum in den ganz realen Daseinsbereichen des Menschen verankert sind, dem intentionalen, dem verhaltensmäßigen, dem kulturellen und dem sozialen. Mit anderen Worten, diese sehr realen Bereiche bilden das Fundament unseres Strebens nach Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und funktionellem Passen, wobei sich der Fortschritt auf diesen Gebieten jeweils mittels der Prüfsteine Injunktion, Daten und Bestätigung vollzieht.

Diese vier gleich wichtigen Geltungsansprüche oder "Wahrheitstypen" sind in
Diagramm 2 dargestellt. Neben das Achsenkreuz habe ich in die Ecken der vier Quadranten die Wörter "Ich", "Wir" und "Es" geschrieben. Dies hat seinen Grund darin, dass jeder dieser vier Quadranten in einer anderen Sprache beschrieben wird. Sie besitzen eine jeweils unterschiedliche, aber völlig gültige Phänomenologie, weshalb sie in einer eigenen Sprache beschrieben werden müssen.

So werden die Ereignisse und Daten des oberen linken Quadranten in einer "Ich-Sprache" beschrieben, die Ereignisse und Daten des unteren linken Quadranten in einer "Wir-Sprache". Die beiden rechten Quadranten sind empirisch und äußerlich, weshalb sie in einer "Es-Sprache" beschrieben werden können. Damit lassen sich die vier Quadranten auf drei einfache Bereiche zurückführen: Ich, Wir und Es, die ich die Großen Drei nenne.

Aber weil sich keiner der Quadranten auf einen anderen reduzieren lässt, können auch diese Sprachen nicht auf eine der anderen reduziert werden. Jeder Quadrant ist außerordentlich wichtig und bildet einen wesentlichen Bestandteil des Weltganzen. Und ganz gewiss sind sie wesentlicher Bestandteil eines umfassenden Verständnisses der Psychologie und Soziologie des Menschen. Nachfolgend einige wenige der wichtigsten Elemente dieser drei Hauptgebiete des Ich, Wir und Es:

Ich (OL): Bewusstsein, Subjektivität, Selbst und Selbstausdruck (u. a. Kunst und Ästhetik), Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit.

Wir (UL): Ethik und Moral, Weltsichten, gemeinsamer Kontext, Kultur, intersubjektive Bedeutung, gegenseitiges Verständnis, Angemessenheit, Gerechtigkeit.

Es (OR und UR): Wissenschaft und Technik, objektive Natur, empirische Formen (u. a. Gehirn und Gesellschaftssysteme), propositionale Wahrheit (Singular und funktionelles Passen).

Wie überlebensfähig die "linksseitigen" Ansätze der Introspektion, der Interpretation und des Bewusstseins (die dem "Ich"- und dem "Wir"-Bereich zugewandt sind) sich auch erwiesen haben, haben wir es doch im Westen seit etwa dreihundert Jahren mit einem massiven und aggressiven Versuch der modernen Wissenschaft und der einseitig rechtsseitigen Ansätze zu tun, den ganzen Kosmos auf ein Bündel von "Es-heiten" zu reduzieren. Der Ich- und der Wir-Bereich wurden dabei von den Es-Bereichen, vom wissenschaftlichen Materialismus, vom Positivismus, Behaviorismus, Empirismus und den objektivistisch-äußerlichen Ansätzen fast vollständig usurpiert.

Dieser rechtsseitige Imperialismus, der der westlichen Moderne seinen Stempel aufgedrückt hat, wird allgemein als
Szientismus bezeichnet, bei dem es sich, wie ich ihn definieren würde, um den Glauben handelt, die ganze Welt ließe sich in einer Es-Sprache erklären. Er besteht in der Annahme, dass sich alle subjektiven und intersubjektiven Räume ohne Rest auf das Verhalten objektiver Prozesse reduzieren lassen, dass sich menschliches und nichtmenschliches Inneres vollständig als holistisches System dynamisch miteinander verflochtener Es-heiten darstellen lassen. ..."

Soweit Ken Wilber. Mir scheint diese Sicht auf "Daten" grundlegend wichtig und hilfreich, wenn ich mir meine Wege zu Selbsterkenntnis und zum Eigensinn deutlich machen möchte.






  • [1] zitiert in http://www.opentheory.org/wissen-ressource/text.phtml (Stand: 20.01.2003) ---- Dazu fand ich 2011 eine Notiz in der taz v. 24.01.2009 zum taz-Leser Jans Bonte --Volltext (Stand 1/2009) Memorandum "Nachhaltige Informationsgesellschaft", Fraunhofer IRB Verlag, 2004, aus http://publica.fraunhofer.de/starweb/servlet.starweb?path=pub.web&search=N-20549
  • [2] aaO
  • [3] Thich Nhat Hanh "Das Wunder der Achtsamkeit"; Theseus Verlag (die vollständige Sammlung der 14 Regeln finden sich auch auf http:/www.achtsame-wirtschaft.de/achtsam.html)
  • [4] in "Das Wahre, Schöne, Gute"; (Originalausgabe 1997); 2002; Fischer-TB im Kapitel "Ein integrales Verständnis des Wahren, Schönen, Guten" (aus den S. 32 - 53)




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