Selbsterkenntnis und Eigensinn


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7.2 Leibhaftigkeit

7 Wo und was ist Ich?


Aus gutem Grund (mit höchst irdisch-pädagogischen Worten: Um mich "weiterzuentwickeln"
[1]) habe "Ich", dieser Schwingungsknoten einer stehenden Welle, mich vor meiner Zeugung für meine Eltern entschieden, einschließlich ihres Stammbaums und des ganzen Rests bis zurück ins Präkambrium. Mit aller Konsequenz habe ich mit deren Regeln meinen Körper gebildet. Der Geist bildet sich den Körper. Voll Neugier, voller Lust zum Ausdehnen ins Unbekannte. Und damit fing der Streß an. Eine große Herausforderung.

Mein Körper funktioniert mit allen seinen Teilen, Organen, die mich überlebenstüchtig machen. Da ich in einer hochvirtuellen Zivilisation lebe, war zum Überleben zuerst wichtig, daß ich mich in die Traditionen meiner Eltern, der Kerngruppe meiner Zentralsozialpartner vertraut gemacht habe. Dazu benutze ich vor allem den oberen Plexus, das Kopfhirn, der den äußeren Organismus steuert aus seiner Verbindung mit dessen Sinnesorganen für die äußere Umwelt des Organismus. Das Gehirn nutzt Strukturen, die dem Abbilden sowohl des eigenen Körpers als auch der Außenwelt dienen, um eine neue Abbildung II. Ordnung zu erstellen. Diese zeigt dann an, daß der Organismus, so wie er im Gehirn repräsentiert ist, sich in Interaktion mit einem Objekt befindet, das ebenfalls im Gehirn abgebildet ist.

Und wenn das Objekt ein Mensch ist, ein Artgenosse, geschieht etwas Besonderes. Denn wir haben im Gehirn "Spiegelneuronen" - Nervenzellen, die nicht nur feuern, wenn ich eine bestimmte Handlung plane, sondern auch, wenn ich dieselbe Handlung bei einem anderen beobachte. So haben wir eine Direktverbindung zwischen "Ich" und "Du" gefunden. Inzwischen entdeckten Wissenschaftler ein ganzes System weiterer Spiegelneuronen bei Affen und beim Menschen: Schmerzen, Berührungen und Gefühle scheinen sich auf die gleiche Weise von Gehirn zu Gehirn - also von Affe zu Affe und von Mensch zu Mensch - zu übertragen.

Spiegelneuronen erklären, warum wir uns spontan in andere einfühlen können und daß das Verstehen des anderen spontan, unwillkürlich, oftmals unbewußt und ohne Einschaltung des Verstandes funktioniert. Die neuen Erkenntnisse könnten nicht nur Pädagogik, Medizin und Psychotherapie auf ein völlig neues Fundament stellen, die Entdeckung der Spiegelneuronen bereichert die Diskussion um die Evolution des Menschen als soziales Wesen. Weil der andere für mich kein Rätsel ist, sondern "fühlt wie ich", und weil ich seine Handlungen meist richtig vorhersehen kann, ist (Ur-)Vertrauen quasi biologisch programmiert.

Erst die Erfahrung von Trug und Täuschung kann es erschüttern. Ich lebe als von Erzogenen Erzogener in einer weitgehend von Virtualitäten und Ansichten überformten Welt, was gegenüber der mittels meiner Sinnesorgane erfahrenen Realität nichts ist als eine freundliche Formulierung für Lug und Trug. Also können mir meine Spiegelneuronen auch nur eine solche virtuelle Welt zeigen und statt des unmittelbaren Kontaktes mit meinem Gegenüber bin ich tatsächlich im Kontakt mit meinem Bild von Wahnheiten meines Verstandes. Objektivität ist nichts als eine Bewußtseinsstörung.

Es gibt die im Gehirn repräsentierte Interaktion mit einem Objekt und die Erfahrungen von Trug und Täuschung. Meine bewußten Anteile daran erfahre ich als Aktionen von Vernunft und Verstand. Zur Unterscheidung dieser Arten von Bewußtheit reicht mir erstmal Neurophysiologie: linke und rechte Gehirnhälfte, die analytische und die funktionale, die trennende und die verbindende. Alles erstmal Leibhaftigkeit.

Die Unterscheidung ist die Sache des Verstandes (asächf. farstandan = stehenbleiben, verhindern; aengl. forstandan = vor jmdn schützend stehen; mhd. verstan = wahrnehmen, auch stehenbleiben, jmdn verteidigen; frühnhd. verstant = Verständnis, Verständigung) Er hat nur zu trennen und die Begriffe in der Trennung festzuhalten. Er ist eine notwendige Vorstufe jeden höheren Denkens. Vor allem bedarf es dafür ja festbestimmter, klar umrissener Begriffe, ehe wir nach einer Harmonie derselben suchen können. Aber wir dürfen bei der Trennung nicht stehen bleiben.

Verstandesarbeit ist immer entweder Urteil, Vergleich (rein vergangenheitsbezogen) oder Erwartung, Planung, Vergleich (zukunftbezogen im Vergleich zu Vergangenem), ist immer ein 'um zu', 'weil', 'damit', ist nie Leben wie es sich lebt, nie Jetzt - tsu-jan.

Verstand beurteilt alles, was ich sehe, höre, schmecke, fühle, rieche, wahrnehme, er hat zu allem eine Meinung, hat Beweise und Rechfertigungen. Und die erzählt er mir unausgesetzt, auch wenn ich ihn nicht mehr darum bitte.

Denn von Säugling auf habe ich ihn ja in diesem Urteilen und Vergleichen trainiert und ich hatte das zur Extrem-Sportart entwickelt. "Es muß aufgepaßt werden!" - aufzupassen, was die 'Anderen' wollen, nicht wollen, was bei ihnen toll ankommt, was gut sei oder schlecht, damit sie mich mögen, damit ich gut ankomme. Alle Urteile hat er gelernt, gelesen, schon vorgeburtlich sich zurechtgezimmert, wenn er für irgend etwas, was ich wahrnahm, eine Erklärung zu brauchen meinte. Er hat sie seit meiner Geburt, spätestens in der Kindheit seit dem Erwerb der Sprache, aufgesogen aus meiner Umgebung, meiner Familie, der Schule, der Hochschule, der Gesellschaft, aus dem Radio, aus dem Fernsehen, aus Filmen, Gesprächen, Zeitungen, Diskussionen, aus Büchern. Er hat all diese Urteile zu einer einzigen großen, langen, dicht gewebten und zusammenhängenden Geschichte zusammengefügt und diese Geschichte nennt er:
Mein Leben, die Welt, die Wirklichkeit, die Wahrheit.

Und, diese Geschichte hängt nicht nur als Gedanken im Kopf, sondern ist auch vielfältig redundant gespeichert im Körper, als Dauer-Spannung oder Dauer-Schlaffheit in Bindegewebe, Muskel, Gelenken, Organen.

Für den Verstand sind Dinge getrennt, die in einer harmonischen Einheit zu sehen, ein wesentliches Bedürfnis der Menschheit ist. Für den Verstand sind getrennt: Ursache und Wirkung, Mechanismus und Organismus, Freiheit und Notwendigkeit, Form und Funktion, Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur und so weiter. Alle diese Unterscheidungen sind durch den Verstand herbeigeführt. Sie müssen herbeigeführt werden, weil uns sonst die Welt möglicherweise als ein verschwommenes, dunkles Chaos erschiene, das nur deshalb eine Einheit bildete, weil es für uns völlig unbestimmt wäre. Der Verstand selbst ist nicht in der Lage, über diese Trennung hinauszukommen. Er hält die getrennten Glieder fest. Dieses Hinauskommen ist Sache der Vernunft.

Die Vernunft (ahd. firnunft, mhd. vernunft = Abstraktbildung zum Präfixverb mhd. vernemen = ordnungsgemäß zuteilen, leiten; ahd. firneman = verstehen, verbrauchen, erkennen) hat die vom Verstande geschaffenen Begriffe ineinander übergehen zu lassen. Sie hat zu zeigen, daß das, was der Verstand in strenger Trennung festhält, eigentlich eine innerliche Einheit ist. Die Trennung war etwas künstlich Herbeigeführtes, ein notwendiger Durchgangspunkt für unser Erkennen, nicht dessen Abschluß. Wer die Wirklichkeit bloß verstandesmäßig erfaßt, entfernt sich von ihr. Er setzt an ihre Stelle, da sie in Wahrheit eine Einheit ist, eine künstliche Vielheit, eine Mannigfaltigkeit, die mit dem Wesen der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Die Vernunft kann wieder zur Wirklichkeit zurück führen. Die Einheitlichkeit alles Seins, die früher gefühlt oder vielleicht nur dunkel geahnt wurde, wird von der Vernunft vollkommen durchschaut.

Es ist zwar richtig, daß die subjektive Vernunft das Bedürfnis nach Einheit hat. Aber dieses Bedürfnis ist ohne allen Inhalt, ein leeres Einheitsbestreben. Tritt ihr etwas entgegen, das absolut jeder einheitlichen Natur entbehrt, so kann sie diese Einheit nicht selbst aus sich heraus erzeugen. Tritt ihr hingegen eine Vielheit entgegen, die ein Zurückführen auf eine innere Harmonie gestattet, dann vollbringt sie dasselbe. Eine solche Vielheit ist die vom Verstande geschaffene Begriffswelt. Dieses Bedürfnis der Vernunft nach Einheit, das sie nur befriedigen kann, indem sie sich den Vielheiten des Verstandes gegenüberstellt, das liegt beides in unserer Leibhaftigkeit begründet.

So suche ich mir Pausen, um in die Muße zu kommen, die meiner Vernunft ermöglicht, ihre Einheitssicht mit den Vielheiten des Verstandes zu assimilieren. Deshalb ist es mir so wichtig, mich zu erden, mich im Körper immer wieder zu verankern und dabei womöglich mir auch die Sicht des Bauchhirns zu assimilieren.

Interessant ist ja auch die Frage, wie der Verstand, der ja nur ein Teil dieses Körper-Geist-Organismus ist, dazu kommt, ständig alle Teile des Ganzen zu vereinnahmen und sich als einziges Ich zu bezeichnen. Könnte es sein, daß jedes Teil dieses Organismus, die ja jeder ein Ganzes sind, sich als den Mittelpunkt wahrnimmt - nur wahrnehmen kann - lauter Ichs. Wer kann wissen, daß nicht jedes Organ des Körpers, nicht nur sein Großhirn auf der linken Seite, so sieht und spricht? Das scheint mir zumindest für unsere derzeitige Zivilisation sehr naheliegend. Doch wie kann ich bewußte Verbindung zum Bauchhirn erfahren? Es scheint, die meisten Menschen in unserer Zivilisationssphäre leben so aus dem Verstand, ohne Vernunft, ganz ohne Verbindung zum Bauchhirn. Es ist eine gesellschaftliche Vereinbarung, kulturspezifisch. Aus den Ergebnissen von Ethnologie ist erkennbar, daß es gar viele andere Lebensmodelle gibt.

Es mag ja sein, daß wir uns manchmal umzingelt fühlen könnten von Unrecht, Krankheit, Langeweile, Dummheit, religiösem Geschwätz und schlechten Gewohnheiten. Die Ängstlichen halten ihre Festung unbeherzt, sie verstecken sich hinter den Betonmauern von Ego und Dogma. Die Mutigen halten ihren Platz ein wenig hartnäckiger, indem sie unbekümmert ihre Verrücktheiten und Absurditäten ins Feld führen, aber dennoch am Heldentum festhalten. Der wahre Held geht, statt sich zu verkriechen, stets auf das Leben zu.

Das Leben, hier, in einem Leib, ist im wesentlichen materiell, und beim vollen und offenen Genuß der materiellen Dinge hat halbherziges Heldentum keinen Platz. Die Anhäufung materieller Güter ist zwar seicht und sinnlos, aber zu diesen Dingen eine unverfälschte Beziehung zu haben, bedeutet, eine Beziehung zum Leben und darüber hinaus eine Beziehung zum Göttlichen zu haben. Wir dürfen niemals unterschätzen, wieviel Hilfe, wieviel Befriedigung, wieviel Trost, wieviel Seele und Transzendenz wir in einer gut zubereiteten Mahlzeit oder in einem frischen Glas Wasser zu finden vermögen.

Ich bin hier bei Mutter Erde, Magna Mater, in der Materie. Erdung ist angesagt. Den Wunsch nach 'Himmelung', asketisch leibfeindlich, den viele Religionen mir nahelegen wollen, den führe ich zurück darauf, daß diese von Männerbünden, insbesondere von alten Männern, angeführt werden. Ich bin nicht hier hergekommen als 'Geistwesen-Darsteller', sondern um geerdet die Polarität von Teilchen und Welle, die Dualität von Licht und Dunkel auszukosten, dieses "Beides zugleich" zu erfahren. Zuerst bin ich leibhaftig, dem Leib verhaftet in diesem Leben. So wähle ich wohlbedacht die Regeln für die Pflege dieses Leibes. Denn es könnte sein, daß in einem frohen Körper auch ein frohes Ich wohnt, das auch frohgemut dessen Seele und Geist darin dienen mag.

Diese alten Männer, die Wächter der Lehre, reden und handeln meist anders als der Begründer ihrer Lehre. Sie sind so ängstlich, denn sie wissen, daß sie nur noch die Regeln der Lehre kennen, nicht mehr ihre Kraft. Sie sind schon lange getrennt von der Baraqa, der Kraft aus der Idee ihres Meisters. Statt um Kraft geht es ihnen um Macht. Ihre Macht beruht auf Angst und Schrecken, die sie verbreiten durch ihre Gebote und Verbote und die Verdammnis, mit der sie den Gesetzesbrechern drohen. Sie fordern eine am Ergebnis ausgerichtete Rechtfertigung menschlichen Lebens, was ein Urteil über nicht oder noch nicht gelungenes Leben einschließt. Sie und ihre Lehren sind gute Beispiele für den Spruch "Wenn sich die Regeln gegen das Leben kehren, kehrt sich das Leben gegen die Regeln".



  • [1] Varda Hasselmann, Frank Schmolke "Welten der Seele - Trancebotschaften eines Mediums"; 1993; 10. Aufl. 2009, Goldmann-TB





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