Selbsterkenntnis und Eigensinn


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11.1 Sich einrichten oder loslassen

11 Was soll das alles?


Wenn ich umgezogen bin, auch von Büro zu Büro, habe ich mich sofort dort eingerichtet. So, als sei dies mein Platz bis zum Lebensende: meine Ordnung der Möbel, meine Bilder an der Wand - es gibt da einige Anekdoten unter den Kollegen. Selbst das möblierte Zimmer bis die Familienwohnung gefunden war, ich bin bis jetzt 36 mal umgezogen, habe ich so mir immer zum Eigenen gemacht. Es gibt so viele Bereiche im Leben, wo man sich einrichten kann oder in Provisorien hängen bleiben will.

Das kann auch als Erstarren empfunden werden oder als Last. Hilde Domin hat dem Ausdruck gegeben in dem Gedicht "Gewöhn dich nicht".
Du darfst dich nicht gewöhnen.
Eine Rose ist eine Rose.
Aber ein Heim
ist kein Heim.
Sag dem Schoßhund Gegenstand ab
der dich anwedelt
aus den Schaufenstern.
Er irrt. Du
riechst nicht nach Bleiben.

Ein Löffel ist besser als zwei.
Häng ihn dir um den Hals,
du darfst einen haben,
denn mit der Hand
schöpft sich das Heiße zu schwer.
Es liefe der Zucker dir durch die Finger,
wie der Trost,
wie der Wunsch,
an dem Tag
da er dein wird.

Du darfst einen Löffel haben,
eine Rose,
vielleicht ein Herz
und, vielleicht,
ein Grab.


Dann geht es wohl um das Loslassen? Buddhisten wollen sich schulen im Nicht-Anhaften. Was ist das - etwas teflonmäßiges, sich nichts anhaben lassen? Oder einfach die Gier nach Kontrolle aufgeben?

Loslassen klingt mir nach aktivem Handeln. Nicht-Anhaften, mit dieser Verneinung, das erscheint mir eher passiv. Geht es um die Verbindung von beidem? Einfach sein ! Einfach sein! Die Illusion von Kontrolle oder Steuerung meines Lebens aufgeben. Meine Lebenskraft nicht aufreiben im Festhalten an Erinnerungen oder Erwartungen von Glück oder Unglück, sondern die Kraft frei einsetzen können für die Veränderungen zum Glück im Miterschaffen an der Realität als grenzenloses Wellenpaket in Resonanz. Leben im Lieben-was-ist, in jeder Sekunde neu. Im Bus, am Schreibtisch, in der Schlange an der Supermarktkasse, beim Essen kochen und Geschirr abwaschen, als Freund, als Ehepartner. "Sobald wir bereit sind, die Hoffnung aufzugeben, daß Unsicherheit und Schmerz jemals beseitigt werden können, entwickeln wir den Mut, uns in die Bodenlosigkeit unserer Situation hinein zu entspannen. Das ist der erste Schritt auf dem Pfad" sagt Pema Chödron.

Kein lieben-was-war-weil-ich-weiß-warum-und-wie, bis ich interpretiert, bewiesen, begründet habe. Lieben was ist, jetzt, ohne Urteile, Bewertungen, Beschönigungen, Beschuldigungen, Erwartungen. Dazu Byron Katie in einem für mich so eindrucksvollen wie zutreffenden Text:
Byron Katie: How do we respond to a world that seems out of control? The world seems that way because it is out of control: the sun rises whether we want it to or not, the toaster breaks, someone cuts you off on your way to work. We've never had control. We have the illusion of control when things go the way we think they should, and then when they don't, we say we've lost control, and we long for some sort of state where we imagine we'll have control again.
Dazu mein Versuch einer Übersetzung.
Byron Katie: Wie reagieren wir auf eine Welt, die unkontrollierbar scheint? Die Welt erscheint so, weil sie tatsächlich außer Kontrolle ist: Die Sonne geht auf, ob wir wollen oder nicht; der Toaster geht kaputt; jemand schneidet Dich auf Deinem Weg zur Arbeit. Wir hatten niemals die Herrschaft. Wir haben die Illusion von Steuerung, wenn die Dinge so laufen, wie wir meinen, daß sie es sollten. Wenn sie es nicht tun, sagen wir, wir haben die Kontrolle verloren und sehnen uns nach einer Art von Zustand, wo wir uns einbilden können, wir werden die Steuerung wieder in der Hand haben.


But suffering isn't a result of not having control or of things accelerating. It is a result of arguing with reality. When we believe our thoughts, we suffer, but when we question them, we don't suffer. Freedom is as simple as that. When the unquestioned mind moves out of its arguments with reality, we move into alignment with constant change. After all, change is happening anyway, whether we like it or not. Everything changes, it seems. But when we're attached to our thoughts about what that change should be, being out of control feels uncomfortable.
Doch Leiden ist nicht das Ergebnis von Kontrollverlust oder von der Beschleunigung der Dinge. Es ist ein Ergebnis von Streit mit der Wirklichkeit. Wenn wir unsere Gedanken glauben, dann leiden wir. Doch wenn wir sie untersuchen, dann leiden wir nicht - Freiheit ist so einfach wie dies. Wenn der nicht hinterfragte Verstand herauskommt aus seinem Streiten mit der Wirklichkeit, können wir uns leicht den ständigen Veränderungen anpassen. Letzten Endes, Wandel passiert allemal, ob wir es mögen oder nicht. Alles verändert sich, so scheint es. Aber wenn wir verbissen sind in unsere Gedanken darüber, wie dieser Wandel sein sollte, dann fühlt es sich unbehaglich an, ohne Kontrolle zu sein.

If there is, in fact, an acceleration of changes, it's a gift. The apparent craziness of the world, like everything else, is a gift that we can use to set our minds free. You can't free yourself by finding a "timeless, changeless dimension" outside your own mind. When you question what you believe, you eventually come to see that you are the timeless, changeless dimension that you've been seeking. Then you may find that you don't need to navigate a future at all that what appears now is all you've got, and even that is always immediately gone. And when you've stopped doing war with reality, you are what changes, totally without control. That state of constant change is creation without limits, efficient and free and beautiful beyond description.
Falls es tatsächlich eine Beschleunigung von Veränderungen gibt, so ist das ein Geschenk. Die scheinbare Verrücktheit der Welt, wie alles übrige auch, ist ein Geschenk, das wir nutzen können, um unseren Verstand zu befreien. Du kannst Dich nicht selbst befreien, in dem Du eine "zeitlose, unveränderliche Dimension" außerhalb Deines eigenen Verstandes erfindest. Wenn Du untersuchst, was Du glaubst, kannst Du möglicherweise dahin kommen zu sehen, daß Du selbst diese zeitlose, unveränderliche Dimension bist, die du gesucht hast. Dann könntest Du finden, daß Du nicht eine bestimmte Zukunft ansteuern mußt, daß das, was jetzt erscheint, alles ist, was Du bekommst, und selbst das ist immer sofort wieder verschwunden. Und wenn Du aufhörst, Krieg gegen die Realität zu führen, bist Du das, was sich verändert, völlig ohne Steuerung. Dieser Zustand von ständigem Wandel ist Schöpfung ohne Grenzen, leistungsfähig und frei und ist schön jenseits aller Beschreibung.

Vielleicht ist das wahres Lebensglück. Das kleine Glück, das mag in der Erfüllung von Wünschen liegen. Darum dreht sich die seit einigen Jahren geführte Glücksdebatte. Machbarkeits- und Allmachtsansprüche sind typische Kennzeichen. Es herrscht der durch keinerlei empirische Beweise abgesicherte Glaube, alles sei kontrollierbar, politisch-gesellschaftlich jedes System, individuell jede Befindlichkeit des Menschen. Angesichts der Uneinlösbarkeit der von den Glücksgurus versprochenen Wunder, könnten etliche Menschen geradezu in Verzweiflung geraten. Der Glaube, man müsse nur reich und mächtig werden, um Glück zu finden, herrschte noch bis in die fünfziger Jahre vor. Dann kam die Hinwendung der Menschen zu ihrer Innenwelt. Seither wird das Glück dort gesucht.

Doch es gibt keine Innenwelt unabhängig von der Außenwelt. Die Überzeugung, Glück hinge von der Beherrschung der Innenwelt ab, ignoriert, daß Glück im Kontakt zu sich selbst, zu anderen Menschen oder zur Natur entsteht. Wer meint, das Glück hinge nur von ihm selbst ab, versucht, Gott zu spielen. Und was ist denn so schlimm daran, an die Glückslüge zu glauben? Menschen, die glauben, nur sie selbst seien für ihr Glück verantwortlich, erliegen einem zunächst kaum spürbaren, aber dann enormen Streß. Zunächst kaum spürbar, weil es so einfach und verlockend klingt, durch Disziplin und Kontrolle das große Glück zu finden. Man bekommt einen scheinbar leichten Rucksack angeboten, der einem in Wahrheit das Kreuz verbiegt.

Wie helfe ich meinem eigenen Glück auf die Sprünge?
[1] Glück entsteht wohl auch durch das Erfüllen von Wünschen, und darum bemühe ich mich natürlich. Ich verbiete mir nicht das Wünschen - Leidenschaft ist göttlich. Aber bevor ich mich deswegen verrückt mache, lasse ich es lieber bleiben. Mein wichtigstes Kriterium ist bei allem die Gelassenheit. Ich renne keinen Glückspropheten hinterher. Deren angebliche Erfolgsstrategien haben einen hohen Preis: Wer sein Leben lenken will, bezahlt dafür mit Lebendigkeit. Das Ziel ist nicht, Handeln zu vermeiden, sondern im eigenen Handeln präsent zu sein. Das Gefühl, lebendig zu sein, ein gutes Maß an Glück, Zufriedenheit und Dankbarkeit sind denen möglich, die nicht alles wissen und planen, lenken, kontrollieren und beherrschen wollen. Die auch Raum für Unwägbares, Unplanbares lassen - eben für das Leben, ohne Krieg mit der Wirklichkeit, im Wir ohne Herrschaft.

In einer vorweihnachtlichen Umfrage hörte ich im Radio, wie Menschen auf der Straße befragt wurden nach ihrem Glücklichsein. Ich war überrascht, dass alle sagten, nein, Glück ist selten - man braucht das Unglück, um das gelegentliche Glück auch spüren zu können; wie der Volksmund sagt: nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Nun, rückblickend kann ich für mich feststellen, dass ich seit einem Scheidungkrieg vor 30 Jahren keine längeren Zeiten von Unglücklichsein mehr zugelassen habe. Damals schien mir, ich könnte tun oder lassen was ich wollte - es war falsch und führte zu mehr Eskalation von Streit in unserer Beziehung, bis ich das "Friede sei mit uns" (s. 9.2 Sünde) entdeckte. Die Liebe, Kraft und Gelassenheit, die allem Lebendigen eigen ist, jederzeit wahrzunehmen und meine Dankbarkeit dafür, indem ich sie wahrnehme, das ist allein meine Angelegenheit und in meiner Verantwortung. Das muss ich nicht planen, lenken, kontrollieren oder gar beherrschen - das kann ich einfach leben in meiner Achtsamkeit für mich in dieser Welt.




  • [1] Michael Mary "Die Glückslüge - vom Glauben an die Planbarkeit des Lebens", 2003, Lübbe-Verlag




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