Selbsterkenntnis und Eigensinn


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6.4 Systeme

6 Wer und was bin ich?


In Worten der Systemtheorie: Ich bilde auf mich selbst bezogene Regelkreise, die sich selbst erhalten. Ich bin ein selbstreferentielles
[1] und autopoietisches[2] System, aufgebaut aus ebensolchen Subsystemen[3]. Das System wirkt auf sich selbst zurück und steuernd verändert es sich und seine Umwelt hin auf ein gemeinsames Optimum. Es gilt nicht, wie bei trivialen Maschinen aus Hebeln, Getrieben oder bei Computern, "Wenn A dann B, wenn B dann C" und das jedesmal wieder, sondern immer "..., wenn C dann A" mit der Folge, daß A sich verändert.

Eine nichttriviale Maschine ist dadurch gekennzeichnet, daß ihr mehr als eine triviale Regel zur Verfügung steht. Zusätzlich hat sie sozusagen eine "Regel II. Ordnung". Diese formt die gerade operierende Regel um in eine andere, die im nächsten Schritt operierende Regel. Solche "Regeln II. Ordnung" finde ich immer und überall, wo ich mich nicht mit der Oberfläche begnüge.

Solche Maschinen sind unanalysierbar und damit unvoraussagbar. Das hat nichts mit beschränktem Wissen oder mangelnder Information zu tun: Die logische Struktur ist prinzipiell unlösbar und damit ist ihr Verhalten unwißbar, genauso, wie von Teilchen oder aber Welle, von ihrem Ort oder aber ihrem Impuls beides zusammen unwißbar ist. Trotzdem kann Jans Termine festlegen und pünktlich am vereinbarten Ort erscheinen.

Nur, ich lebe in einer Zivilisation, die sich in Phantasien über triviale Maschinen verliebt hat und deshalb mechanistische Lösungswege bevorzugt. Wir messen, zählen, wiegen Sachen und ignorieren ihre Wechselwirkungen. Wir untersuchen das Material, seine Struktur und ignorieren die daraus erwachsende Form. Unverändert, seit über hundert Jahren, lautet so das herrschende Paradigma von Biologie und Medizin. Als wüßte ich, wenn ich die Backsteine kenne, ob sich eine Kathedrale oder ein Mietshaus daraus formen wird, ob diese Form Anbetung oder Müdigkeit umhüllt.

Diese Form zusammen mit dem, was sie umhüllt ist das selbstreferentielle System. Es hat sich infolge Selbstorganisation gebildet, jenseits seiner Instabilitätsschwellen aus einem ursprünglich instabilen Zustand. Die Selbstorganisation des Systems geht auf das kooperative Wirken seiner Teilsysteme zurück.

Im Gegensatz zu trivialen Systemen, in denen die Entropie
[4] zunimmt, nimmt sie hier ab, herrscht hier Negentropie: Die nichtlineare innere Systemdynamik bindet die Energie in nicht umkehrbaren Prozessen zur Ausbildung komplexerer, immer weiter geordneter Strukturen. Solche Ordnung kann nicht abgebaut, zurückgeführt, sondern kann nur zerstört werden.

Diese Zunahme an Komplexität und kooperativer Ordnung läßt sich überall und immer beobachten: Von Quarks zu Atomen, zu Molekülen, zu belebten Makromolekülen, zu Einzellern, Mehrzellern, zu Pflanzen und Tieren; hier zu Würmern bis hin zu uns, den domestizierten Primaten ohne Fell
[5]. Und hier: vom Stein für das Nüsseknacken zum Atomkraftwerk, vom Tauschen 'Früchte gegen Fell' zum 'global player', von der Horde zum Staatenbund, von Strichen für eine Anzahl zum binären EDV-Programm, vom Bemerken des Mondaufgangs zur Astrophysik, vom Alpha-Männchen zum Dalai Lama. Eine endlose Folge von immer komplexeren Ordnungen. Vor allem, besonders wert zu bemerken: Jede Ordnung war für die Beteiligten und für die Beobachter unvorstellbar, bevor es sie gab!

Diese Hierarchien von System und Untersystemen setzen sich fort in allen Bereichen des Organismus. So gibt es im Gehirn keinen einzelnen Ort, wo alle Informationen zusammenlaufen, wo aus den verschiedenen Sinnessignalen schlüssige Bilder der Welt gefertigt werden, wo Entscheidungen fallen, wo das Ich "Ich" sagt. Statt dessen sehen wir uns einem extrem dezentral organisierten System gegenüber, in dem an vielen Orten gleichzeitig visuelle, auditorische oder motorische Teilergebnisse erarbeitet werden. Und diese koordiniert das Gehirn auf recht geheimnisvolle Weise zu einer zusammenhängenden Deutung von Welt. Wie es kommt, daß dieses System auch über sich selbst Protokoll führt, so daß es sich seiner selbst bewußt wird, zählt wohl zu den faszinierendsten Fragen.

Immer nimmt die Information im System zu und zugleich die Regeln zu ihrer Verarbeitung. Aus dem umhüllten Fötus wird der Säugling. Der bekommt einen Namen und bei der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt wird daraus 'Ich'. Dies kann die so abgetrennte Welt wieder in sich zum 'Selbst' verbinden. Solche Sprünge zu höherer Komplexität in höherer Ordnung, solche 'Fluktuationen', verlaufen in der Regel chaotisch. Die alte Ordnung stirbt, weil die neue werden wird. Das kann mir ganz mächtig Angst machen, aus dem sicheren, weil bekannten Gestern ins unbekannte Morgen zu treten - ach was, mich katapultiert zu wähnen. Und wieder ein Paradoxon: Ich trete ins Morgen in sich selbst verantwortender Freiheit mich katapultiert wähnend.



  • [1] selbstreferentielles System = es bildet einen auf sich selbst bezogenen Regelkreis
  • [2] Autopoiese, die Fähigkeit sich selbst zu erhalten; als minimale Eigenschaft, die ein System besitzen muß, um als lebend definiert zu werden
  • [3] Erich Jantsch: "Die Selbstorganisation des Universums - Vom Urknall zum menschlichen Geist"; München, 1979
  • [4] Entropie = durch die ungeordnete Bewegung der Moleküle wird von allen Verteilungen der Moleküle auf räumliche Positionen und mögliche Geschwindigkeiten sich wegen der Zusammenstöße als Gleichgewicht ein Zustand mit einer gleichmäßigen Verteilung einstellen. Dieser Zustand größter "Unordnung" besitzt die größte Wahrscheinlichkeit
  • [5] Robert A. Wilson: "Der neue Prometheus"; Basel, 1985, "Die Grundsituation der Menschheit ist sowohl tragisch als auch komisch, sind wir doch allesamt domestizierte Affen mit wunderbaren 30-Milliarden-Zellen-Gehirnen, die wir selten wirksam einsetzen, da wir unser Verhalten von den älteren reptil- und säugetierhaften Teilen des Hinterhirns dominieren lassen.



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