Selbsterkenntnis und Eigensinn


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11.3 Regeln oder Chaos

11 Was soll das alles?


In den Texten aller Zeiten und Mythologien finde ich das Pendeln zwischen den Hütern von Ordnung und den Vertretern der Idee, das Alte mit Neuem aufzumischen, zwischen Normen und Individualität. Taoisten und Konfuzianer, Mystiker und Agnostiker, Menschen des Glaubens und Menschen der Werke, Religionen, bei denen das Tabu im Vordergrund steht, und solche, die bei ihren Angehörigen den unmittelbaren Umgang mit ihren Gottheiten pflegen. So viele Wege wie Kulturen auf dieser Erde. Sind Regeln oder aber Chaos einander ausschließende Alternativen?

In unserer Art von Gesellschaft sind Regeln meist ein Werkzeug zur Durchsetzung von Ansprüchen - "die herrschenden Regeln sind die Regeln der Herrschenden" heißt es. Die im Alltag als ehern betrachteten Planetenumläufe können wissenschaftlich als deterministisches Chaos verstanden werden. Denn die Planeten 'kreisen' ja nicht - ihre Bahnen, von nahem betrachtet, können als recht flatterige Spiralen beschrieben werden, Schraubenlinien durch die Raumzeit, deren Berechenbarkeit über Millionen von Jahren gesichert erscheint. In der Physik werden inzwischen Hypothesen gepflegt, wonach selbst unsere 'Naturgesetze' nichts als nur 'Gewohnheiten des Universums' und womöglich nur gültig hier seien, aus der Sicht auf und von Terra in diesem Planetensystem.

Sind in jeder Regel nicht schon die Abweichungen, zumindest einiges an Entwicklung angelegt? Ist in allem Chaos nicht schon die künftige Ordnung verborgen? Das Leben lebt sich und mich mittendrin. Ich habe gemerkt, das ich nicht der Macher bin, in dem Strom von Antworten, im Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln, im Blick auf den Strom meiner Wahrheiten über den Strom der Situationen. Es ist, wie es ist - bis es anders ist. Wenn ich mich einlasse auf einen Kampf gegen die Realität, dann verliere ich doch nur einmal: Immer.

Mein angesammeltes Gepäck an Traditionen, Modellen, Überzeugungen, Glaubenssätzen hatte mich unbeweglich gemacht. Ich hatte meine Erinnerungen an mein erlebtes Leben viel zu oft für das Leben selbst gehalten, hatte die Symbole dafür als Totem vor mir hergetragen und damit mein Leben so oft verpaßt. Und ich merke immer deutlicher, daß mein Leben nur darauf wartet, daß ich darauf zugehe, mitfühlend, beherzt, handelnd, nicht nach-denkend. Ein wunderbares Leben eröffnet sich da für mich, wenn ich nichts projiziere aus der Vergangenheit in die Zukunft. Ich muß nicht nach Sinn suchen in meinem Leben, in diesem munteren Chaos, das nur durch meine Gewohnheiten den Anschein von Überschaubarkeit, Planbarkeit andeutet.

Schönreden - Schlechtreden, mir wurde dann entgegengehalten, es gibt doch aber soviel Entsetzliches in der Welt; da darf man nicht die Augen zumachen. Ich dagegen habe gemerkt: Es gibt nichts Entsetzliches außer meinen ungeprüften Gedanken über das, was geschehen ist. Was gibt mir mehr Kraft - "Mein Partner hätte mich nicht verlassen sollen" oder: "Er hat mich verlassen. Welche Möglichkeiten habe ich jetzt?" Die Realität ganz klar zu sehen versetzt mich in die Lage, intelligente Entscheidungen zu treffen. Wenn ich mich mit der Realität streite, bin ich eingeschränkt. Wann immer ich also leide, dann überprüfe, schau ich mir meine Gedanken an und befreie mich selbst. Bin ein Kind. Beginne mit der Erkenntnis, daß ich nichts weiß. Führe meine eigene Unwissenheit bis zur Freiheit.

Zu 'Es gibt nichts Entsetzliches' fiel mir eine Situation im Bombenkrieg ein. Wir waren im Bunker von Verwandten, unter einer Getreidehandlung im Industriegebiet, nebenan eine kleine Raffinerie. Dann kam ein Minen-Teppich runter. Währenddessen gingen wir aus dem Privatkeller in den Hauptkeller. Kaum waren wir da raus, rumste es, wir fielen alle zu Boden, weil der sich selbständig machte und die Stahltür hinter uns beulte sich aus: Nebenan ein Volltreffer. Chaos, Geschrei. Wenig später wurde der Kriechgang vom Keller des Nachbargrundstücks, der Raffinerie, aufgebrochen und ein paar Leute kamen rein, Verletzte, die meine Mutter mit den Windeln des Säuglings von meiner Tante dann verband beim Licht einer Kerze. Dann kam der Nebenan-Luftschutzwart: "Wir müssen raus - die Tanks brennen und explodieren gleich"! Noch mehr Chaos, Geschrei.

Und dann durch das menschenleere Industriegebiet, 20 Erwachsene + 3 Kinder (meine Cousine, 6 Monate, meine Schwester, 4 Jahre und ich, 9). - Naja, undsoweiter. Entscheidend: diese panischen Erwachsenen mit ihren grauen und verzerrten Gesichtern, die verbeulte Stahltür, die wie Fackeln brennenden Getreidesilos und Benzintanks und das Brausen der Flammen, die Flieger mit ihrem singenden Brummen und die heulenden Bomben, die da raus torkelten, das war - und ist - für mich nur spannend, ein grandioses Schauspiel, so viel an Erwachsenenmerkwürdigkeit, soviel an Feuer, soviel an Geräuschen, staunenswert fremdartig Neues.

Wenn ich das jetzt hier so hinschreibe, steigt mir zwar was im Halse auf in dem Gedanken an diese Erwachsenen, Mitgefühl für ihre Todesangst, Mitgefühl für ihre Kleinheiten. - Aber es gibt da nichts Entsetzliches, nur Spannendes, das die anderen 'Inferno' nannten. Und ich konnte mich schon damals nicht entscheiden, diese Benennung zu übernehmen.

Andere finden solche Sicht einfach krank und abartig, und meinen, es mag ja sein, daß ein Kind in erster Linie das Schauspiel der Zerstörung wie ein Feuerwerk bewundern kann. Aber das mit neun Jahren? Ist das nicht eine wahnsinnige Realitätsverzerrung, sicher eine bewundernswerte Leistung der Psyche, um seelisch zu überleben; aber zu vergleichen mit Abspaltung, Dissoziationen.

Es mag ja sein, aus Selbstschutz werden Teile der Vergangenheit ausgeblendet, während der Verstand klar sieht und formuliert, was passiert sei. Ein Paradoxon an sich, aber es ist so. Ich hatte wohl schon ziemlich früh keine so glaubensfeste Beziehung zu den Erwachsenen, den Autoritäten um mich herum, daß ich wohl eher meinen Wahrnehmungen den Vorzug geben wollte als deren Beurteilungen.

Was ist Realität, wo fängt sie an, wo hört sie auf? Ja, der kleine Jans hat sich da wohl mit einem "rettenden Sprung" in "Sicherheit" gebracht, aber eben nicht einem Sprung in die Dissoziation oder Wahnsinn, sondern genau in die andere Richtung. Ich weiß von vielen Menschen, daß sie als Kind auch schon die Fähigkeit hatten, schlimme Dinge so wahrzunehmen. Dieses Wort 'wahr-nehmen' sagt ja schon alles: Für wahr nehmen, es ist wahr, wenn ich es sehe, und mehr nicht. Und in dem, die schrecklichen Dinge erst einmal so stehen zu lassen, ohne emotional gleich "drauf an zu springen", liegt die ganze Kunst. Nur so kann ich handeln/helfen. Nicht wenn ich fremde Urteile übernehme, wenn ich auch weine. Glaube an Regeln oder an Chaos helfen da nicht weiter.

Melanie Klein, die bedeutendste Neuerin der Psychoanalyse, hat für die menschliche Entwicklung zwei Grundpositionen herausgearbeitet: die "schizoid-paranoide" und die "depressive" Position. Die erste, lebensgeschichtlich frühere, ist dadurch gekennzeichnet, die Welt kraß in Gut und Böse zu spalten und das Böse auf die anderen zu projizieren. Die depressive Position zu erreichen, bedeutet im Kern: die Dinge des Lebens ertragen zu können. Ohne Resignation, aber auch ohne Illusion und Allmachtsfantasien. Denn nur dann ist Realität veränderbar. Diese Position ist nach Klein das Ziel des Lebens und, so minimalistisch es auch klingen mag, das Resultat lebenslanger Anstrengung.

Und den Bogen zurück zu meinem Anfangskapitel, zu Gesellschaft und Herrschaft: "Unordnung" ist das einzige Wort, das mir nach dem Blick durch die Tageszeitungen einfällt. Aber Unordnung - ist das eine theoretische Kategorie? Ja, sagt schon lange Immanuel Wallerstein, der großflächigste unter den Weltmarkttheoretikern. Die alte Ordnung sei dahin, und eine schwarze Periode von dreißig Jahren Instabilität lägen vor uns, bis eine neue politische Struktur sich etablieren werde. Weiß der Himmel, wie er auf dreißig Jahre kommt; und außerdem, so fügt er hinzu, wisse man nicht, ob die neue Stabilität, die sich irgendwann einstellen werde, schlimmer oder besser sein werde als - diese Unordnung. Dann toppt er den Marxismus mit dem Existentialismus: In solchen Übergangszeiten, in denen die Institutionen aufgelassen sind, komme der Individualität der Einzelnen große Bedeutung zu.

Nun, wir im Norden stehen erst am Anfang dieser Art Freiheit. In Südafrika sind sie schon ein wenig weiter: Dan, der die Straßenränder bepflanzt. Geraldine, die Bibliothekarin, die vor der Beschneidung floh und nun Kinderbücher in die Budenstädte trägt. Paul aus alter Burenfamilie, der die Dörfer am Kruger-Nationalpark vor der Ausplünderung durch Bodenspekulanten schützt. Sechaba, Leiter des Bürgerbüros in Orlando, sagt: "Wir haben Mandela gemacht. Mbeki baut Institutionen, aber so etwas dauert zwei Generationen." Der Kampf beginnt erst. Das sagen die "educated upward mobile" und lassen lachend offen, ob sie ihren oder den Klassenkampf meinen. Auf absehbare Zeit wird Aufklärung ein Breitensport unter dem offenen Himmel der Geschichte bleiben. Und der Durchreisende fragt sich, was passieren würde, wenn wir diese Energie hätten, anwendeten, wendeten. "You can make a difference" - das ist nicht von Benetton, das ist von Dan.



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