Zehen am Boden behalten

„Immer fünf Zehen am Boden behalten!“ schreibt Miyamoto Musashi, ein japanischer Samurai des 17. Jhd. und Begründer der Niten Ichiryu-Schule des Schwertkampfes, in seinrm Werk Gorin no Sho (deutsch „Das Buch der Fünf Ringe“) als Quintessenz seiner Schwertschule. Er widmete sich 20 Jahre lang der Suche nach der „Meisterschaft der Strategie“. Nach eigenen Angaben erreichte er diese mit 50 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt lebte er nicht mehr nach irgendwelchen Prinzipien, sondern nur nach dem Geiste seiner Erkenntnis, der Ichi Schule, wie sie sich in Himmel und Erde widerspiegelt.

Nun bin ich wohl Lichtjahre entfernt von der Geistesgröße eines Musashi. Aber die Sache mit den Zehen, die hat mich gepackt. Ich habe einige Schulungswege und Einweihungen erlebt. Ich habe das jeweils solange betrieben, bis ich merkte ‚ja, das stimmt – und, es funktioniert‘. Wenn es funktionierte bin ich weiter gegangen. Nicht nur bin ich zu faul, um alle geschulten Prinzipien regelgerecht anzuwenden. Nicht nur bin ich viel zu neugierig, als dass ich bei einer Sicht auf die Welt stehen bleiben möchte. Vor allem, ich hatte immer wieder den Eindruck, dass die Lehrer und die fortgeschrittenen Adepten nicht erkennen ließen, ob oder wie sie ihre Zehen am Boden hatten. Sie waren oft die erzogenen Erzieher, die wissen, wo es für ihre Schüler langgeht.

Die Zehen am Boden zu behalten bedeutet für mich, mich ganz und gar einzurichten in meiner Leibhaftigkeit, in meiner Gebundenheit in ein Hier und Jetzt, wohl wissend, dass, was Hier und Jetzt sei, auch davon abhängt, wie ich dieses wahrnehme, wie ich diesem wahrgebe, nämlich meine Wahrheit diesem Hier und Jetzt dazugebe, meine Zehen am Boden behalte. Meine Zehen am Boden, das bedeutet anders gewendet, dass ich mich liebe und akzeptiere, so wie ich bin, dass ich mich wohlfühle in einem Wir ohne Herrschaft ohne Kampf mit der Wirklichkeit und in Anerkennung meiner Unwissenheit II. Ordnung, wo ich nicht weiß, dass ich nichts weiß.

Michael Eggert gab in seinem Blog und gekürzt in der Zeitschrift Die Drei 11/2005 einen Überblick auf den dazu passenden Stand der Neurobiologie und -psychologie. „… So erwähnt der Neurobiologe Gerald Hüther: Die effizienten Verschaltungen des Hirns können durchaus zur Belastung werden, indem sie die mögliche Neuroplastizität und Flexibilität unterlaufen. Denn wenn Menschen eine Erfahrung „zur Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung“ zwanghaft immer wieder suchen, werden die „in ihrem Hirn aktivierten Verschaltungen (..) immer effizienter verknüpft und gebahnt“; aus den „Wegen“ werden „Autobahnen“, aus einer Bewältigungsstrategie ein „eingefahrenes Programm“ [21] (genaue Textnachweise in Eggert). Mit der aufkommenden Vereinseitigung werden möglichst Erfahrungen im Alltag ausgeblendet, die diesem Programm widersprechen; es entsteht ein Teufelskreis, eine geistige Verarmung. Manchmal laufen „ganze Kulturen (..) Gefahr, ganz bestimmte, einmal entwickelte und als besonders erfolgreich bewertete Strategien der Lebensbewältigung und die damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Grundüberzeugungen und Wertvorstellungen immer weiter auszubauen und zu festigen“ [23]

Hirnforschern wie Hüther graut auch deshalb vor einer Kultur, die ein „Leben in künstlichen Welten“ entwickelt und in immer größerem Tempo ausbaut, weil dieses Spezialistentum nicht nur Individuen psychisch und Hirne physisch formt, sondern vielleicht auch genetisch nachfolgende Generationen determinieren könnte. Die Virtualisierung der Lebenswelt schritte dann unaufhaltsam voran. Auch Rudolf Steiner spricht von „Schädigungen“ in der „menschlichen Kulturentwicklung“ durch die „elektrische Kraft“ – die Schädigungen liegen für ihn in dem „wüsten Egoismus,“ der sich „entfalten kann.“ [24] Dieser Egoismus konstituiert sich in dem Trieb, „jeden Menschen auf der Welt nur äußerlich anzuschauen,“ ja Erfahrungen überhaupt nur noch zu machen, „ohne dass das Innere irgendwie rege gemacht wird.“ [25] Die Folge dieses Autismus sieht Steiner im Aufkommen nationaler Identitätsubstitute, separatistischer Bestrebungen und wahrscheinlich religiöser Fanatismen [26].

Bei allem Spezialistentum, das in der Zukunft wohl nicht aufgehalten werden kann: Das „Innenleben, das wir suchen, bleibt falsch, bleibt ein versucherisches, wenn es nicht einhergeht mit einem liebevollen Interesse für die Eigenarten der anderen Menschen.“ [27] Die dauernde Korrektur und Überwindung der Spezialisierung durch soziale Erfahrungen, ja durch „das wärmste Interesse (..) für andere Menschen“ ist für Steiner nicht schmückendes Beiwerk, sondern eine kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Grundvoraussetzung.

Verfrühte technologische Manifestationen menschlicher Entwicklungsschritte haben zwangsläufig eine erhebliche suggestive Dynamik, was die Faszination und überstiegene Heilserwartungen der frühen Internetpropheten erklärt. Zahlreiche Agitatoren wie der späte Timothy Leary, aber vor allem materialistische Mystiker wie Moravec, die frohen Sinnes das Ende der Menschheit und ihr Weiterbestehen in der Maschine bejubelt haben [61], zeugen von diesen Prophetien. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der die Suggestivkraft des Mediums beleuchtet, und das ist die Wirkung der globalen sofortigen Verfügbarkeit der Informationen selbst. Viele moderne spirituelle Lehrer wie Andrew Cohen machen darauf aufmerksam, wie weit das moderne Bewusstsein der westlichen Zivilisationen durch ein „starres, angstbesetztes und ichbezogenes Verhältnis zu unserem Erleben“ [62] determiniert ist. Aller scheinbaren Libertinität zum Trotz verlieren sich die meisten Zeitgenossen „in einem scheinbar endlosen Kampf“, der es vor allem unmöglich macht, zuzulassen, „Raum zu schaffen für das, was wir nicht wissen. Wir müssen Raum schaffen für das Nichtwissen, was unsere innere Erfahrung und unser äußeres Leben betrifft.“ [63] Sich so auf wirklich neue Erfahrungen einzulassen wird vor allem durch den Reflex verhindert, sich mittels permanenter Informationsbröckchen durch die Print-, Massenmedien und das Internet zu vergewissern, dass die Katastrophen zwar irgendwo stattfinden, aber möglichst nicht in unserer nächsten Nähe. Der intellektuelle Klammerreflex erkämpft ein Stück Identitätsgefühl: „Wir kämpfen, um am Angenehmen festzuhalten, und wir kämpfen, um am Schmerzhaften festzuhalten“ [64] – die Hauptsache besteht darin, zu verhindern, ins Unbekannte, „voll ins Leben einzutauchen.“ [65] Die dauernde „Ablenkung für den Verstand“ gibt eine „Illusion von Sicherheit“ [66] und stützt damit die starren „Vorstellungen des Selbst.“ [67]. Für das konstruktivistisch erschaffene Selbst ist die Vorstellung unerträglich, „keinen Standpunkt zu haben, keinen Bezugspunkt, keinerlei Ahnung.“ [68]

Ein Beispiel für solche ersten technischen Implantate ist das künstliche Innenohr (Cochlea- Implantat) bei tauben, möglichst jungen Patienten. Bei diesen elektronischen Geräten besteht einerseits eine Verbindung zu einem Mikrofon – andererseits ein verstärkter, „elektronisch in verschiedene Frequenzbänder“ [84] zerlegter Impuls. Kleine, vom Chip ausgehende Stromdrähte liegen direkt am Hörnerv an, damit dieser durch die Elektroden stimuliert wird. Diese elektronischen Impulse sind natürlich „völlig verschieden von denen des natürlichen Innenohres“ [85] – und so verwundert es auch nicht, dass zunächst vollkommen sinnlose, rumpelnde Geräusche, die den Patienten zutiefst irritieren, gehört werden. Die Stimulation erfolgt ja auch – im Gegensatz zum natürlichen Hören – nur an wenigen Stellen des Nervs und sie hat mit der normalen Art des Hörens denkbar wenig zu tun. Es stimmt eigentlich nichts: weder „die räumliche noch die zeitliche Ordnung der Impulse.“ [86]

Und dennoch geschieht das Erstaunliche: Innerhalb eines Jahres wird für die meisten Patienten (die Fähigkeit der neuronalen Plastizität nimmt mit dem Alter ab, wie wir wissen) das rumpelnde, sinnlose Chaos nicht nur zu einem strukturierten Hörorgan- auch Sprache kann ganz normal verstanden werden. Das elektronische Gerät – ein Minicomputer- ersetzt das natürliche Organ. Wie ist das möglich? Offensichtlich haben im Laufe dieses Jahres „im Gehirn massive Umbauvorgänge stattgefunden.“ [87] Das Gehirn organisiert sich um, überträgt die Repräsentanzen, die für das Hören zuständig sind, auf die Impulse, die nun eintreffen und doch vollkommen verschieden sind: Kleine Stromschläge sind etwas anderes als Hörwellen. Natürlich haben diese elektrischen Impulse eine gewisse Regelhaftigkeit, weil diese aus der regelhaften Umwelt gewonnen werden – das Gehirn muss diese Sprache aber erst völlig neu erlernen. Der Kortex ist also eine „Regelextraktionsmaschine.“ Wenn etwas, was Sinn machen kann, ankommt, dann lernt das Gehirn, diesen Sinn zu verstehen. Entsprechend werden neue Verbindungen in den Synapsen und Repräsentationen im Kortex gebildet. Für das Verstehen von Worten sind dabei die höchsten kortikalen Areale involviert, denn der Sprachsinn ist noch höher entwickelt als der reine Hörsinn. Keinesfalls wird zuerst gehört und dann verstanden, denn dies ist ein integrativer, synthetischer Prozess: Es geschieht gleichzeitig.

Wir sind als wahrnehmende Menschen zutiefst bedeutungs-, sinn- und kontextorientiert. Das Hirn orientiert sich in einem Top- down- Prozess von oben nach unten, vom Sinnzusammenhang, vom verstehenden Ich her. Dieses baut sich sein Gehirn Sinn stiftend um und integriert dem Organismus fremde Impulse, wenn diese regelhaft sind. So wird „der akustische Input erst durch Sinnzuweisung zu dem, was er zu sein scheint.“ [88] Diese Tatsache gibt Hoffnung für zahlreiche – zunächst sensorische – Behinderungen, denn die direkte Implantation von Computerchips an Nerven sollte auch bei anderen Sinnen gelingen. Der Mensch kann auch ihm fremde Geräte dann in sein sensorisches Feld integrieren, wenn sie Sinn stiftend wirken. Der Forschung ist damit ein weites Feld eröffnet. Warum sollten nicht auch bestimmte Hormonausschüttungen durch elektronische Regler gesteuert werden? Warum sollte nicht- auf lange Sicht – ein Hirn-Interface direkten neuronalen Zugang zu komplexen Computern und Netzwerken eröffnen? Es scheint nach diesen Erfolg versprechenden Anfängen eine Frage der Zeit, bis die Verbindung von inneren neuronalen und externen elektronischen Netzwerken neu definiert werden kann.

Der Mensch hat eine virtuelle Stadt gebaut, indem er seine Fähigkeiten aus sich heraus gesetzt und in Technik wieder hat erstehen lassen. Seine innere Neuroplastizität – die nicht, wie man vor kurzem noch gedacht hat, kurz nach der Geburt ausklingt – macht es möglich, dass diese Technik wieder in ihn einzieht. Der Mensch baut sein Gehirn Sinn stiftend danach um. Der Mensch wird dabei nicht zur Maschine – er verleibt sie sich nur ein und integriert sie in seine zutiefst harmonische Sinneswelt, die ein Abbild des Logos, des sinnvollen Ganzen ist. Der Mensch bleibt in der Maschine nicht stecken; sie kann ihm nichts verstellen. Er greift durch die Kraft seines Ich durch sie hindurch auf die Wirklichkeit zu. …“

Wo ich auch bin, wie ich auch meine Neuroplastizität mein Gehirn Sinn stiftend umbauen lasse, mit fünf Zehen am Boden können die Irrwege nicht allzu groß werden – glaube ich. Zumindest kann festgehalten werden, dass sich über die Jahrmillionen der Evolution die Maschine im Kopf für einen optimalen Umgang mit der Welt da draußen so entwickelt hat. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker (Steven Pinker „Denken – Wie das Denken im Kopf entsteht“; Fischer TB, 2. Aufl., 2011, 767 S.) beschreibt das sehr plausibel, von der Standardausrüstung bis hin zu Liebe und Sinn des Lebens. Zwar wird sich bald herausstellen, dass auch seine Kombination aus Darwin und schlauen Computerprogrammen den Schlüssel zu unserem Selbstverständnis nicht endgültig darstellt – Zehen am Boden behalten.

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