Meinung – Wissen – Macht

‚Meinung‘, interessantes Wort – es gibt keine Deinung, trotz 2000 Jahren Erziehung zur Nächstenliebe. Es gibt schon gar nicht Unserung, trotz des Drangs vieler Menschen zum Wir-Gefühl in Organisationen. Jeder von einer Person formulierte Satz ist nichts als Meinung, glaube ich. Der Gutmeinende und der aufmerksame Zeitungsleser entgegnen jetzt: ‚Stop, es gibt doch Experten und Wissenschaftler – kein Großvorhaben ohne Experten-Gutachten – kein Experte ohne eine Traube von Wissenschaftlern dahinter – Wissenschaftler geben uns Wissen, nicht Meinungen. – Und! Es gibt die Vierte Gewalt, die Presse, die aufpasst!‘.

Das ist wohl ein kategorialer Unterschied: Mein Wissen, also persönliches; oder aber kollektives oder soziales Wissen, also die akzeptierte Mehrheitsmeinung in Gruppen oder gar größeren sozialen Gebilden, wozu dann auch der „Experte“ gehört. Mehrheitsmeinung und Expertenwissen sind ausgehandelt, erscheinen so als das Ergebnis von Macht.

In meiner Website weise ich auf das Buch von Patrizia Duffy: „Jeder blaue Buchstabe duftet nach Zimt — Wie Synästhetiker die Welt erleben“; deutsch: München, 2003. Sie schreibt: „… Es mag schon sehr eigentümlich erscheinen, doch einige vor einiger Zeit angestellte linguistische Untersuchungen haben ergeben, dass der neurale Prozess, mit dem wir Sprache speichern, in höchstem Maße persönlich ist. Francis Crick, der Mitentdecker der Doppelhelixstruktur von DNA, hat auch Untersuchungen durchgeführt, die darauf hinweisen, dass die Art und Weise, in der jeder von uns Sprache codiert, so einzigartig und unverwechselbar ist wie seine oder ihre Fingerabdrücke. Jeder Einzelne von uns besitzt ein eigenes neurales Schema, das seiner oder ihrer Sprachfähigkeit zugrunde liegt. Mit Hilfe ihrer Untersuchungen von Hirnaktivität während der Verwendung von Sprache haben Dr. Crick und sein Team am Salk Institute in La Jolla, Kalifornien, herausgefunden, dass verschiedene Aspekte von Sprache in verschiedenen Regionen des Gehirns weiterverarbeitet werden. Im Unterschied zu dem, was man bislang annahm, gibt es kein allein zuständiges Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte, das aktiviert wird, wenn man Wörter hört, spricht oder an sie denkt, sondern vielmehr werden eine Reihe verschiedener Zentren, die über den visuellen und den auditiven Cortex verteilt sind, zugleich aktiviert, und die Informationen aus jedem dieser Zentren verbinden sich, um die persönliche Gesamtbedeutung des Wortes mit allen relevanten Implikationen zu bilden. Man muss unbedingt der Tatsache eingedenk bleiben, dass das neurale Muster linguistischen Speicherns eines jeden Einzelnen von uns einzigartig und einmalig ist und in keinem anderen menschlichen Gehirn noch einmal vorkommt. …“

Und das, was für den Spracherwerb gefunden wurde, dürfte analog für jeden Wissenserwerb und alle Erinnerungen gelten. So wie jeder Mensch für die Welt einmalig aussieht, so sieht er auch einmalig in die Welt hinein. Einen Menschen wie Sie gab es nie vorher und wird es später nie wieder geben.

In meiner Website habe ich aus dem Memorandum des Arbeitskreis «Nachhaltige Informationsgesellschaft» der Gesellschaft für Informatik (Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag, 2004, ISBN: 3-8167-6446-0) zitiert; dort heißt es auf S.13
„… In der Diskussion über Informationsgesellschaft oder Wissensgesellschaft verschwimmen gelegentlich die Bedeutungsgrenzen von «Daten», «Information» und «Wissen». Wir verstehen diese Begriffe wie folgt:
• Daten: Daten sind in Form von Zeichen (z. B. als Zahlen, Texte oder Bilder) codierte Erfahrungen oder Ereignisse.
• Informationen: Aus Daten werden Informationen, wenn sie von einem System (dies kann ein Individuum oder eine Organisation sein) interpretiert werden.
• Wissen: Aus Informationen wird Wissen, wenn diese in einen Erfahrungskontext eingebettet und damit anwendbar werden.
Erst die gesellschaftlich vermittelte Fähigkeit, Daten zu «lesen», macht daraus Information. Wenn das Individuum sie schließlich im eigenen Lebenszusammenhang umzusetzen vermag, dann ist aus Information Wissen geworden. Wenn man auch Organisationen (Systeme von Individuen) als Träger von Wissen und Information auffasst, gelten für sie analoge Aussagen. Der immer breitere Einsatz von ICT (Information and Communication Technologies), insbesondere das explosionsartige Wachstum des Internets, lässt sich nicht als konstituierendes Merkmal einer Informations- oder Wissensgesellschaft, sondern allenfalls einer «Datengesellschaft» deuten. Wie weit die breite Verfügbarkeit von Daten zur Vermehrung von Information oder Wissen beiträgt, bedarf im Einzelfall einer näheren Analyse. …“

Der in Brooklyn lebende Finanzjournalist Surowiecki zeigt in seinem Buch „Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne und wie wir das kollektive Wissen für unser wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln nutzen können“ (München, 2005) aus Erkenntnissen der Spieltheorie und aus Untersuchungen von Disziplinen wie Politikwissenschaft, Soziologie und Behavioral Finance zahlreiche Beispiele. Viele von uns nehmen grundsätzlich an, dass Experten und wenige Hochbegabte nicht nur über mehr Spezialwissen verfügen, sondern auch zuverlässig bessere Entscheidungen treffen als Gruppen von Durchschnittsbegabten. Tatsächlich sind aber Teams von wahllos zusammengewürfelten Menschen dank ihrer „kollektiven Intelligenz“ in der Lage, erstaunlich komplexe Probleme zu lösen — und meist sogar besser als selbst die gescheitesten Einzelpersonen in ihrer Mitte. Anhänger des Genie-Kults werden „Die Weisheit der Vielen“ nicht mögen. Fans möglichst weitgehender Demokratieauslegungen bekommen dadurch neue Argumentationshilfen. Bei aller Begeisterung für die „Gruppenintelligenz“ übersieht Surowiecki nicht, dass sie in vielerlei Fällen katastrophal versagt. Damit Kollektive auf kluge Weise entscheiden, müssen einige Grundbedingungen erfüllt sein. Unabdingbar ist als Erste diese, dass Hierarchien keine einschneidende Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen dürfen und so Personen in niederen Rangstufen verleiten könnten, das eigene Urteil zu unterdrücken.

Diese Weisheit der Vielen, er nannte das Vox populi (lat. „Stimme des Volkes“), untersuchte schon der vielseitige Gelehrte Francis Galton. 1906 besuchte Galton die jährliche westenglische Nutztiermesse, bei der ein Ochsen-Gewicht-Schätz-Wettbewerb veranstaltet wurde. Für sechs Pence konnte jeder seine Schätzung abgeben. Insgesamt 787 Personen, sowohl Unbedarfte als auch einige Experten, nahmen teil und gaben einen Tipp ab. Galton entschloss sich zu einem Experiment, um die Dummheit der Masse zu beweisen: Er wertete die fast 800 Schätzungen statistisch aus. Der Mittelwert aller Schätzungen (1207 Pfund) kam dem tatsächlichen Gewicht des Ochsen (1198 Pfund) erstaunlich nahe (Abweichung von 0,8 Prozent). Galtons Versuch, die Dummheit der Masse auf diese Art zu beweisen, war somit gescheitert. Die Entscheidungsfindung darf also nicht von einem Willen beeinflusst sein.

Galton erfand ein Gerät, die „Glockenkurve“ der normalverteilten Wahrscheinlichkeit darzustellen.

Normalverteilung

Dann noch erstaunlicher finde ich die Versuche, die Ergebnisse am Galtonbrett zu beeinflussen: einfach davor sitzen und entschieden, aber ohne Konzentration und Willensanstrengung, denken bei jeder fallenden Kugel „nach links – nach links – nach links“ (oder aber rechts). Das funktioniert selbst am Bildschirm – ich habe es ausprobiert

Galton linksschief

 

– und den bereits in den frühen Psychokinese-Versuchen von J. B. Rhine und seiner Schule, als fallende Würfel beeinflußt werden sollten, entdeckten »Absinkungseffekt« hatte ich dabei auch, wo dann eben nichts mehr nach links-links-links geht oder auch der Versuch, eine ‚unbeeinflusste‘ Verteilung zu erzeugen, nicht gelingt. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich den PC wieder unbeeinflußt klickern lassen konnte – wie lange dauert es wohl, bis ich meine Meinung wieder ändern kann, bzw. bis ich überhaupt merke, dass sie beeinflusst ist?

Galtonbrett-beeinflt Glockenkurve

Mit dem Medium des Web 2.0 und der Online-Enzyklopädie Wikipedia wurde die kollektive diskursive Konstruktion von Wissen entscheidend verändert. Dabei wurden institutionelle Grenzen sowie räumliche und zeitliche Einschränkungen für den Zugang zu Wissen, den Austausch und die Aufbereitung von Wissen sowie für Aushandlungsprozesse deutlich reduziert. Die Wikipedia wird in der heutigen Zeit vielfach als verlässliche Quelle genutzt, weshalb die Fragen in den Mittelpunkt rücken, wer vorhandenes Wissen in dieser Online-Enzyklopädie aufbereitet bzw. aufbereiten darf und auf welche Weise dieses als derzeitiger Stand des Wissens präsentiert wird. „Wer definiert Wissen“ fragt Marius Beyersdorff. Er beschäftigt sich am Beispiel der Homöopathie mit einem der größten Probleme in der Wikipedia: Der Entwicklung von Artikeln in umstrittenen Themen. Dabei ließ sich erkennen, dass Richtlinien Machtelemente konstituieren und so die Wissensproduktion beeinflussen. Aber insbesondere im betrachteten Thema konnte Beyersdorff keine klaren Entscheidungsprozesse ausmachen. Der Vorschlag des Autors geht dann in die Richtung, die Macht gewachsener Strukturen einzudämmen und die Möglichkeit der Diskursentwicklung immer in so viele Hände geben wie möglich. Ich interpretiere das als die Forderung, nicht mehr als Argument zuzulassen „Das ist alles schon ausdiskutiert, lies die Archive“. (Marius Beyersdorff : Wer definiert Wissen? – Wissensaushandlungsprozesse bei kontrovers diskutierten Themen in „Wikipedia – Die freie Enzyklopädie“ – Eine Diskursanalyse am Beispiel der Homöopathie [Reihe: Semiotik der Kultur / Semiotics of Culture; Bd. 12, 2011, 312 S., 29.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-11360-3])

Doch, ob Bücherschrank zuhause oder Web 2.0, vor dem Aufblühen der wissenschaftlichen Revolution plädierte schon im Mittelalter Nikolaus von Kues, der große frühe Fürsprecher einer mathematisch orientierten Naturwissenschaft, für die von ihm so bezeichnete „gelehrte Unwissenheit“, also nicht Allwissenheit, sondern ein immer mehr verfeinertes, einsichtsvolles Nichtwissen.

Der Volksmund sagt „Wissen ist Macht – nichts wissen macht nix“. Vor der unendlichen Menge des Nichtwissens II.Ordnung, wo ich nicht weiß, dass ich nichts weiß, mag der Volksmund recht haben. Vor der endlichen Menge an veröffentlichter Meinung wäre solche Haltung Selbstverdummung. Paul Sethe, Nestor des Journalismus der Nachkriegsära und u.a. einer der Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schrieb in einem Leserbrief im Spiegel vom 5. Mai 1965: „Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Was er damals über Pressefreiheit sagte, dürfte heute, wo sich die Hochschulen von Drittmitteln am Leben halten, zusätzlich für Wissenschaftsfreiheit gelten.

Mehrheitsmeinung und Expertenwissen sind ausgehandelt, sind das Ergebnis von Macht! Wer übt da gerade Macht aus? Wem könnte diese veröffentlichte Meinung nützen? Wer verdient daran? Wo fließt das Geld hin?

Anders gewendet (aus: taz vom 24.5.13; “Weiß. Macht. Schwarz” VON ENRICO IPPOLITO / JASMIN KALARICKAL)
“Bei seiner Theaterperformance hat André Vollrath die Bühne verlassen. Er läuft durch das Publikum, entlang einer Reihe von Bierbänken, die im Raum aufgestellt sind. Darauf liegen Bücher. AutorInnen: Grada Kilomba und anderen schwarze AutorInnen. Ein Band wird abgespielt, Zitate aus diesen Büchern, und immer wieder der Satz, der an ein Mantra erinnert: “Wessen Wissen wissen wir, wessen Wissen gilt als Wissen.” ..”

Nachtrag: Sehr ausführlich untersucht das die Politikwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela am Beispiel der Debatte darüber, ob Rassismuskritik „wissenschaftlich“ ist, in taz v. 14. 2. 2017,Eine Geste des Grenzdenkens„. Wer die Macht hat, kann seine Wahrheiten durchsetzen.